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Zum journalistischen Leitbild von t-online.DFB-Verteidiger Ginter beklagt Umgang mit Sportlern
Mit 25 Jahren ist Matthias Ginter plötzlich einer der erfahrensten Fußball-Nationalspieler. Im Interview spricht er über den Umbruch im DFB-Team und mangelnde Wertschätzung für Sport-Stars.
Matthias Ginter macht seinem Ruf als Musterprofi einmal mehr alle Ehre: Der Gladbacher Verteidiger erscheint ein paar Minuten früher als angekündigt zum Interview im Teamhotel der Nationalelf in Wolfsburg – und nimmt sich dann auch noch deutlich mehr Zeit als angekündigt.
Nach dem Rauswurf von Mats Hummels, Thomas Müller und Jérôme Boateng ist er einer der letzten verbliebenen Weltmeister im Team. Auch wenn er beim 1:1 gegen Serbien geschont wurde, dürfte er in den kommenden Monaten eine wichtige Rolle im DFB-Team spielen – und das will er auch.
t-online.de: Herr Ginter, an diesem Sonntag starten Sie mit der Nationalelf gegen die Niederlande in die EM-Qualifikation. Die letzten Duelle in der Nations League endeten mit 0:3 und 2:2. Fürchten Sie einen Fehlstart und neuen Ärger der Fans?
Matthias Ginter (25): Ich hoffe, dass die Zuschauer anerkennen, dass jetzt größtenteils nicht mehr die erfahrenen Spieler mit 100 Länderspielen auf dem Platz stehen, sondern eine neue Generation, die noch lernen muss. Gerade für die jungen Spieler ist es hilfreich, wenn Unterstützung von den Rängen zu spüren ist. Aber: den Rückhalt der Fans müssen wir uns mit unserer Leistung natürlich auch verdienen, das wird ganz entscheidend bei den nächsten Spielen.
Was haben Sie gedacht, als vor dieser Länderspielwoche Mats Hummels, Thomas Müller und Jérôme Boateng aus der Nationalmannschaft aussortiert wurden?
Als ich in Gladbach vom Trainingsplatz kam, haben die ersten Mitspieler zu mir gesagt: 'Hast du das schon gehört?' Ich habe es anschließend im Fernseher gesehen und war auch überrascht. Bundestrainer Joachim Löw hat eine sportliche Entscheidung getroffen, um den Neuaufbau der Mannschaft zu forcieren.
Was bedeutet es für Sie, den nun erfahrensten Abwehrspieler im deutschen Kader?
Wenn die Stützen der vergangenen Jahre weg sind, werden die Rollen natürlich neu verteilt. Ich bin zwar erst 25, aber als einer der älteren Spieler im Kader bereit und gewillt, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Abwehrchef Matthias Ginter – wie klingt das in Ihren Ohren?
Ein "Abwehrchef" allein ist nichts, daher bin ich kein großer Fan von dieser Aussage. Es verteidigen alle zusammen, sonst funktioniert es heutzutage nicht. Ich versuche selbst mit Leistung voranzugehen und meinen Mitspielern zu helfen, sowohl im Klub als auch hier in der Nationalelf.
Wenn man die Aussagen jüngerer Spieler und auch Sie nun hört, bekommt man den Eindruck: die Zeit lautstarker Führungsfiguren im Fußball ist vorbei.
Ja, das hat sich in der Nationalmannschaft in den vergangenen Jahren auch so entwickelt. Den wild gestikulierenden, lautstarken Zentrumsspieler, der seine Gegenspieler quasi 'weggrätscht', um sich Respekt zu verschaffen, gibt es nicht mehr. Gerade Bastian Schweinsteiger und Philipp Lahm haben schon viele Spieler in ihre Führung einbezogen, genauso geht es mit Manuel Neuer als Kapitän aktuell weiter.
Würde ein lautstarker Anführer denn heute noch funktionieren?
Das stelle ich mir schwierig vor. Natürlich sind Körpersprache, Mentalität und Ausstrahlung enorm wichtig. Aber sportliche Defizite lassen sich damit nicht überdecken, dafür existieren auch zu viele Datenbanken mit Laufwerten, Zweikampfquoten und Passstatistiken. In erster Linie wird im Fußball heute über Leistung geführt.
Was ist Ihre oberste Regel für gute Führung im Fußball?
Die Mannschaft muss über allem stehen. Gerade als junger Spieler neigt man dazu, zuerst auf sich und seine individuelle Leistung zu schauen. Man will keine Fehler machen, erst einmal ankommen, das ist ganz normal. Da muss man als Führungsspieler für die jungen Spieler da sein, mit ihnen sprechen, und ihnen helfen. Gemeinsam entsteht das große Ganze.
Beim Treffen der Nationalelf sorgte Leroy Sané mit einer extravaganten Jacke im Wert von 4.500 Euro für Aufsehen. Ihrem Geschmack entsprach sie vermutlich nicht …
Sicher nicht (lacht), aber jeder kann natürlich tragen, was ihm gefällt.
Warum ruft öffentlich zur Schau getragener Luxus in Deutschland häufig mehr Kommentare und Reaktionen hervor als sportliche Höchstleistungen? In anderen Ländern scheint es deutlich weniger Sozialneid zu geben.
Grundsätzlich ist das richtige Maß aus Selbstbewusstsein und Demut sehr wichtig. Das angesprochene Phänomen lässt sich allerdings nicht nur auf den Fußball beziehen, auch bei Politikern oder Künstlern kommt diese Diskussion schnell auf. In den USA wird gefühlt viel lockerer damit umgegangen. Dort sind alle Gehälter im Sport transparent und es gilt eher die Sichtweise: jeder kann etwas schaffen, wenn er den nötigen Fleiß mitbringt. Dort wird eher gesehen, was Sportler leisten und erreicht haben. Dazu ist mir neulich noch etwas aufgefallen.
Was denn?
Ich habe viel Biathlon-WM und Nordische Ski-WM geschaut. Wenn ein Deutscher dort Vierter oder Fünfter wurde, wird das fast wie eine Niederlage bewertet und er muss erklären, warum er die Medaille verpasst hat. Dabei ist das eine enorme Leistung. Das wird in einer erfolgsverwöhnten Sportnation wie unserer manchmal anders eingeordnet. So ähnlich erkläre ich mir das auch mit Leroys Jacke. Im Erfolg wird er dafür 'gefeiert', jetzt gibt es Kritik. Die Frage ist: Darf ich nicht mehr herumlaufen wie es meinem persönlichen Modegeschmack entspricht, nur weil wir sportlich gerade nicht zur absoluten Weltspitze gehören?
Schränkt Sie das als Sportler ein?
Natürlich gibt es Momente, in denen ich darüber nachdenke. Wenn du nach einer 0:3-Niederlage noch in die Stadt gehst und jemand ein Foto von dir schießt, kann schnell eine große Story daraus werden. Als Einschränkung empfinde ich das nicht, man gewöhnt sich sehr schnell an die Rolle als Person des öffentlichen Lebens und wir können uns ja immer noch frei bewegen.
Wenn es sportlich nicht läuft, wird häufig auf Einstellung, Mentalität und das Auftreten abseits des Platzes geachtet. Ist das überhaupt noch zeitgemäß?
Ohne eine Top-Mentalität kommst du gar nicht bis in die Bundesliga und erst recht nicht in die Nationalmannschaft. Da schaffst du es noch nicht einmal durch den Jugendbereich, wo jedes Jahr knallhart aussortiert wird. Heute gibt es auf dem Spitzenniveau eigentlich häufiger taktische, physische oder spielerische Gründe für Misserfolg.
Matthias Sammer hat kürzlich den deutschen Fußball international nur noch zum "Durchschnitt" erklärt. Hat er recht?
Wenn man die reinen Fakten der vergangenen zwei Jahre betrachtet, mag das nachvollziehbar sein. Letztes Jahr hat es nur Bayern in die K.-o.-Phase der Champions League geschafft, dieses Jahr haben wir außer Frankfurt in der Europa League kein Team im Viertelfinale. Wir sind als Nationalelf in der WM-Vorrunde ausgeschieden und in der Nations League abgestiegen. Aber: anders als bei früheren Tiefpunkten haben wir im deutschen Fußball viel Potenzial und Talent. Wir brauchen vielleicht eine kurze Phase des Umbruchs, damit die jungen Spieler Erfahrung sammeln können, aber mittelfristig sind wir sehr gut aufgestellt. Im Klubfußball ist das aufgrund der finanziellen Nachteile gegenüber anderen Top-Ligen etwas schwieriger.
Die Diskrepanz ist schon auffällig: Bayern ist Liverpool in der Champions League unterlegen, überrollt die Gegner in der Bundesliga aktuell aber reihenweise. Ist die Kluft zur internationalen Spitze wirklich so groß geworden?
Finanzielle Unterschiede gab es schon immer, mittlerweile bilden sie sich meiner Meinung nach aber auch deutlicher im Sport ab. Bayern hat – anders als etwa Liverpool oder die internationale Top-Konkurrenz – in den vergangenen Jahren keine gigantischen Transfersummen ausgegeben. Sie gehören zwar qualitativ weiter zu den Top 8 in Europa, Liverpool hat mit diesen Investments aber massiv aufholen können. Generell wird die entscheidende Frage für den deutschen Klubfußball lauten: Wollen wir die internationale Entwicklung mit Investoren und immer höheren Ablösesummen mitgehen, dafür aber ein Stück weit Tradition aufgeben? Oder halten wir an unserer Linie fest und setzen auf junge Talente? Dann müssen Fans und Öffentlichkeit aber auch akzeptieren, dass es Rückschläge und allein schon in puncto Erfahrung Nachteile gegenüber der internationalen Top-Konkurrenz geben wird. Diese Frage sehe ich aktuell noch nicht entschieden.
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Ärgern Sie sich als Gladbacher, dass Sie die punktemäßig schwächste Bayern-Saison der vergangenen Jahre nicht noch besser ausnutzen konnten?
Das war ja nicht unser Ziel. Ärgern würde ich mich, wenn wir am Ende der Saison sagen müssten: Es wäre mehr drin gewesen. Das darf nicht passieren. Aktuell kämpfen wir uns wieder zurück. Wir waren ja zwischenzeitlich vor Bayern, dann haben uns die beiden Heimniederlagen gegen Hertha und Wolfsburg doch sehr getroffen. Plötzlich waren Euphorie und Selbstbewusstsein etwas angekratzt. Die guten Ergebnisse müssen wir uns erst wieder erarbeiten.