WM-Rückblick: Uruguay 1930 Als die Fifa vergaß, dass in Uruguay Winter war
Neue Serie zur WM-Historie mit einer Geschichte pro Turnier. Heute: Die WM 1930, bei der die Fifa bei der Vergabe vergessen hatte, dass in Uruguay Winter war.
Lediglich fünf auswärtige Journalisten saßen am 18. Mai 1929 im Rathaus-Saal von Barcelona, als die Ausrichtung der ersten Weltmeisterschaft vom Fußball-Weltverband FIFA an Uruguay vergeben wurde.
"Kicker" engagiert Schiedsrichter als Journalisten
Gar nur zwei europäische Pressevertreter berichteten vom 13. bis 30. Juli 1930 von der WM-Premiere aus Montevideo. Die deutsche Fachzeitung "Kicker" hatte den belgischen Schiedsrichter John Langenus und den ungarischen FIFA-Delegierten Moritz Fischer als "Berichterstatter" engagiert.
Am 29. Juli, am Tag vor dem Finale, erschienen die ersten Berichte von der Vorrunde. Die wenigen Zeilen vom Endspiel waren erst am 26. August im "Kicker" zu lesen – mit 27 Tagen Verspätung.
Kein Verband will die WM ausrichten
Kein Wunder, sie kamen – wie die Schreiber – per Schiff über den Atlantik. Uruguay hatte 1929 in Barcelona als Retter in höchster Not gegolten: Beinahe nämlich wäre die erste WM ausgefallen.
Kein Verband wollte sie ausrichten, die hohen Kosten schreckten. Alle Europäer winkten ab. Buchstäblich in letzter Minute sprangen die Südamerikaner ein. Uruguay feierte 1930 sein 100-jähriges Bestehen.
Botschafter Dr. Buero fuhr von Brüssel nach Amsterdam, um der FIFA die Zusage zu geben. Aus Dankbarkeit ernannte der Weltverband den Diplomaten gleich zu einem seiner Vizepräsidenten, obwohl Buero vorher nie etwas mit Fußball zu tun gehabt hatte.
Kein Geld, keine Zeit: Europas Elite sagt die WM ab
Ein Ausrichter war nun also vorhanden, aber wer wollte jenseits des großen Teiches spielen? In Europa zuckte man mit den Schultern: kein Geld, keine Zeit. Italien, Österreich, Spanien, Ungarn und die Tschechoslowakei – die Elite sagte ab. Die Briten waren noch gesperrt, den Skandinaviern war der Weg zu weit, ebenso den Deutschen, Schweizern, Niederländern.
Vom Balkan meldeten die drittklassigen Rumänen und die zweitklassigen Jugoslawen. Schließlich sorgten die FIFA-Präsidenten in eigenen Landesverbänden für eine Minderung der Blamage: FIFA-Boss Jules Rimet in Frankreich und Vize Seeldrayers in Belgien.
Von Genua aus dampfte man mit dem Schiff gen Uruguay – drei Wochen lang. Riesig dagegen war die Begeisterung in Uruguay. In Montevideo wurden die Teams wie hohe Staatsgäste empfangen, per Autokorso vom Schiffskai ins Hotel gejubelt. Zwei Tage vor dem ersten Spiel waren endlich alle da: 13 Mannschaften – sieben aus Südamerika, vier aus Europa sowie Mexiko und die USA.
50.000 Fans stürmen Polizeisperren ins neue Stadion
Dann der nächste Schreckschuss: Das neue Stadion wurde nicht rechtzeitig zum WM-Auftakt fertig. Montevideos Spitzenklubs Penarol und Nacional sprangen kostenlos mit ihren Vereinsplätzen ein. Die Begeisterung war dennoch riesig – alle Spiele waren nahezu ausverkauft. Schon nach dem dritten Spieltag meldete Uruguays Verband stolz den Sprung in die Gewinnzone.
Als das neue Stadion mit dem Spiel Uruguay gegen Peru endlich eingeweiht wurde, durchbrachen 50.000 Fans die Polizeisperren und stürmten bis ans Spielfeld. Auf insgesamt 110.000 Zuschauer wurde die Menge geschätzt.
Während man in Deutschland vom Box-Weltmeister Max Schmeling redete und schrieb, der erste Start von Deutschen bei der Tour de France Schlagzeilen machte und der erste Fußball-Meistertitel von Hertha BSC in aller Munde war, stellte der WM-Titel ganz Uruguay auf den Kopf.
Schon 1924 in Paris und 1928 in Amsterdam waren die Urus Olympiasieger geworden, hatten die Fußball-Welt mit Spielkunst und Tricks begeistert, wie sie bis dahin in Europa unbekannt gewesen waren.
Ein schlaksiger Uru wird zum ersten WM-Star
Ein dunkelhäutiger Spieler namens Jose Leandro Andrade avancierte zum ersten WM-Star. Uruguays schlaksiger Außenläufer, mit seinen dünnen Säbelbeinen äußerlich kaum ein Fußball-Idol, verzauberte mit seiner Balltechnik und ließ Gegner wie Anfänger erscheinen. Der Staatspräsident schenkte ihm eine Zehn-Zimmer-Villa – später endete Andrade namenlos in einem Armengrab.
Eine Fußball-WM der Gegensätze und Extreme, die erste von 1930. Dazu passt noch: Am Eröffnungstag schneite es in Montevideo, es war eiskalt, und viele Schiffer aus dem benachbarten Argentinien blieben im Nebel auf dem riesigen Rio de la Plata stecken. 13. Juli – das bedeutete nämlich auf der südlichen Halbkugel Winter. Daran hatte vorher in Europa niemand gedacht.
- Nachrichtenagentur sid