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Zum journalistischen Leitbild von t-online.England verliert Finale Er dürfte als gescheitert gelten
Die englische Nationalmannschaft verliert das EM-Finale. Das ist besonders tragisch für den Mann, der das Team in den letzten Jahren aus der Bedeutungslosigkeit befreit hatte.
Aus Berlin berichtet William Laing
Die Blicke der englischen Nationalspieler um kurz nach 23 Uhr am Sonntagabend waren leer. Sie alle hatten sich im Strafraum des Berliner Olympiastadions versammelt. Kobbie Mainoo lehnte frustriert am Pfosten. Dann rief der Stadionsprecher die Mannschaft auf, die – angeführt von Mannschaftskapitän Harry Kane – durch das Spalier der applaudierenden Spanier gehen musste, um sich ihre Medaillen abzuholen. Erneut war es die in Silber.
England hat den Europameistertitel verpasst. Zum zweiten Mal in Folge sind die "Three Lions" im Finale des Wettbewerbs gescheitert – ein Novum in der Geschichte der EM. Nach der Niederlage im Elfmeterschießen gegen Italien 2021 setzte es für England in diesem Jahr im Finale eine 1:2-Niederlage gegen Spanien. Nico Williams (47. Minute) und Mikel Oyarzabal (86.) schossen die Iberer zum Titel. Der zwischenzeitliche Ausgleich von Cole Palmer (73.), der das Stadion noch mal zum Beben gebracht hatte, war für die Briten letztlich zu wenig.
England steht damit mal wieder mit leeren Händen da. Die Niederlage gegen Spanien war für das selbsterklärte Mutterland des Fußballs der nächste Tiefschlag bei der Mission, endlich die zweite große Trophäe seit dem WM-Titel 1966 ins eigene Land zu holen. Die Trauer nach Abpfiff war dementsprechend überall zu spüren – vor allem aber bei dem Mann, der England überhaupt erst wieder in die Spur gebracht hatte.
Das passte nicht in das öffentliche Verständnis
Gareth Southgate wirkte niedergeschlagen, als er einige Minuten nach Mitternacht am Podium zur Pressekonferenz Platz nahm. "Ein Finale zu verlieren, ist unglaublich hart", sagte Englands Nationaltrainer hör- und sichtbar angefasst, ohne dabei aber seinen britischen Anstand zu verlieren. "Glückwunsch an Spanien, sie waren das beste Team im Turnier, und sie waren heute das beste Team."
Tatsächlich hatte Southgate damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Spanien war über die gesamten 90 Minuten objektiv betrachtet gefälliger, ballsicherer, zielorientierter gewesen. England hatte sich, wie so oft in diesem Turnier, über weite Strecken der Partie aufs Verteidigen konzentriert. Diese Herangehensweise war im Turnierverlauf bereits mehrfach von Experten, sogar von solchen aus der eigenen Heimat, stark kritisiert worden. Denn: Die englische Elf ist die von den Marktwerten her mit Abstand teuerste Mannschaft des Turniers, ist mit Weltstars wie Jude Bellingham, Harry Kane oder Bukayo Saka gespickt. Der biedere Defensivfußball passte einfach nicht in das öffentliche Verständnis von dieser Millionentruppe.
Die fußballerische Renaissance ist unbestritten
Was aber zumindest in England selbst durchaus ins eigene Verständnis passte, war der Erfolg, den diese Art des Fußballs mit sich brachte. Denn tatsächlich reichte Southgates Spielidee in Kombination mit der individuellen Klasse einiger Stars und einer Menge Glück in einzelnen Spielsituationen zum erneuten Finaleinzug, der auch noch Englands ersten außerhalb der eigenen Landesgrenze darstellte. Wohl auch deshalb formulierte Southgate auf der Pressekonferenz durchaus etwas pathetisch, das Team habe "das Land stolz gemacht."
Dass es aber überhaupt so weit kommen konnte, dass England wieder ein Team hat, das Endspiele erreicht und von Titeln träumen kann, ist durchaus auch dem 53-Jährigen selbst anzurechnen. Seit 2016 ist Southgate Nationaltrainer. Bei der WM 2018 führte er England bereits ins Halbfinale, bei der WM 2022 ins Viertelfinale. Dazu kommen eben noch die beiden Endspielteilnahmen bei den Europameisterschaften. Keine schlechte Bilanz für einen Trainer, dessen Nation bis zu seiner Amtsübernahme kein einziges Endspiel seit 1966 mehr erreicht hatte und drohte, in der fußballerischen Bedeutungslosigkeit zu versinken.
Bei der EM 2016 war England beispielsweise noch völlig überraschend im Achtelfinale an Außenseiter Island gescheitert. Bei der WM 2014 schied man gar in der Vorrunde aus. Die fußballerische Renaissance unter Southgate war und ist im Grunde unbestritten.
Ein Schleier der bitteren Enttäuschung
Dennoch verbleibt die sportlich eigentlich nicht übel anmutende Amtszeit des Ex-Nationalspielers mit dem Makel der Titellosigkeit. So wird ein Trainer mit einer Auswahl an solchen Top-Stars, wie sie England zur Verfügung stehen, eben nur daran gemessen, ob seine Spieler nach einem Finale die Trophäe in den Händen halten oder eben nicht.
"Wir sind hergekommen, um zu gewinnen, und wir haben es nicht geschafft", sagte Gareth Southgate, offenbar wohl wissend, dass zuletzt eben nur der Titel zählt – besonders auf der Insel, wo die Fans sich schon so lange nach einer Trophäe sehnen wie wohl bei keiner anderen großen Fußballnation. Wie sehr die Anhänger derweil die erneute Finalniederlage mitnehmen dürfte, war in den Schlussminuten der Partie in Berlin bereits zu spüren. Die Stille auf den Rängen nach dem 2:1 für Spanien sprach zumindest Bände. Über der englischen Kurve lag förmlich ein Schleier der bitteren Enttäuschung.
Endgültig gelüftet werden kann der wahrscheinlich erst wieder in zwei Jahren. Die nächste Chance auf einen Titel für England bietet sich nämlich im Sommer 2026. Dann steht die Weltmeisterschaft in den USA, Kanada und Mexiko an. Auch dort wird das Team – so viel steht ob der Kaderqualität bereits fest – wieder zu den Favoriten zählen. Ob Gareth Southgate dann noch an der Seitenlinie stehen wird, ist aber mehr als fraglich. "Ich werde das nicht zuerst öffentlich diskutieren", sagte der Coach über seine Zukunft. Gut möglich, dass das Finale das letzte Spiel an der Seitenlinie war für den Mann, dem der englische Fußball eigentlich so unendlich viel zu verdanken hat, und der am Ende dennoch als gescheitert gelten dürfte.
- Eigene Beobachtungen vor Ort / bei der Pressekonferenz