Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kölner Datenwissenschaftler Wie aussagekräftig sind Inzidenzwerte wirklich?
Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie richten sich zu großen Teilen nach der Inzidenz. In Köln machten zuletzt Stadtteile mit hohen Werten Schlagzeilen – wie aussagekräftig sind die Zahlen wirklich?
Als vor wenigen Wochen im Kölner Stadtteil Chorweiler in einer bis dahin einmaligen Aktion Impfungen durchgeführt wurden, lag die Sieben-Tage-Inzidenz dort bei mehr als 500. Kurz zuvor wurde in Köln-Libur gar eine Inzidenz von über 714,9 gemeldet – zuletzt lag sie hingegen bei 0. In dem Stadtteil mit nur knapp über 1.000 Einwohnern hatten gerade einmal acht Neuinfektionen mit dem Coronavirus für die schwindelerregend hohe Inzidenz gesorgt.
Immer wieder fordern Mediziner und Wissenschaftler, sich nicht allein auf diesen Wert zu konzentrieren. Die deutsche Politik hält jedoch daran fest und macht Lockerungsschritte in der Regel von diesem Wert abhängig. So kommt es nach dem Infektionsschutzgesetz etwa bei einem lokalen Inzidenzwert von über 100 zu Ausgangsbeschränkungen. Wie sinnvoll ist das wirklich? Darüber haben wir mit dem Datenwissenschaftler und Juniorprofessor Tom Zimmermann von der Universität Köln gesprochen.
t-online: Was sagen Inzidenzwerte aus und wie werden sie berechnet?
Tom Zimmermann: Der Inzidenzwert wird berechnet, indem die Anzahl der bekannten Corona-Neuinfektionen der letzten sieben Tage durch die Einwohnerzahl einer Stadt oder einer Region geteilt wird. Dieser Wert wird dann mit 100.000 multipliziert.
Für Köln-Dünnwald bedeutet das: 19 positiv Getestete in den letzten sieben Tagen (Stand 12.05.) stehen 11.619 gegenüber. 19 geteilt durch 11.619 ergibt 0,001635. Multipliziert mit 100.000 ergibt sich eine Inzidenz von 163,5.
Der Inzidenzwert sagt demnach aus, wie viele von 100.000 Menschen im Zeitraum von sieben Tagen positiv auf Corona getestet wurden.
Warum wird der Wert auf 100.000 Einwohner hochgerechnet?
Dadurch kann man die Zahlen besser vergleichen und auch besser verstehen. Jeder Inzidenzwert bezieht sich immer auf dieselbe Einwohnerzahl – egal ob ein Stadtteil nun 10.000 oder nur 1.000 Einwohner hat. Um die Inzidenzwerte zu verstehen, muss man also nicht wissen, wie viele Einwohner ein bestimmter Stadtteil hat. Der Anteil an Infizierten ist klar erkennbar. Die Zahlen sind dadurch viel aussagekräftiger.
Embed
Sind diese Zahlen nicht viel zu ungenau, wenn man die Inzidenzwerte beispielsweise für einen Stadtteil berechnet, der viel weniger Einwohner hat als 100.000?
In der Tat kommt es zu extremen Ausschlägen nach oben oder unten, wenn ein Stadtteil wie Köln-Hahnwald nur 2.066 Einwohner hat. Dann können drei Infizierte schlagartig eine Inzidenz von über 600 verursachen. Mehr Sinn ergeben Inzidenzwerte daher bei Regionen, die größere Einwohnerzahlen haben. So ist ein Vergleich zwischen Hamburg und Köln aussagekräftiger.
Worauf muss bei der Berechnung geachtet werden?
Eine Berechnung der Inzidenzwerte ist nur so gut wie die gemessenen Infektionszahlen. Wenn die tatsächlichen Zahlen unklar sind, weil beispielsweise die Dunkelziffer an Infektionen groß ist, fällt die Interpretation der Inzidenzwerte umso schwerer. In unterschiedlichen Zeiträumen der Pandemie wurde beispielsweise unterschiedlich intensiv getestet. Damit schwankt die Zahl der Tests erheblich und demnach auch die positiven Testergebnisse.
Wie sinnvoll ist es, politische Entscheidungen auf diese Daten zu stützen?
Das Infektionsgeschehen nur anhand einer Zahl abzubilden, ist nicht sinnvoll. Stattdessen braucht es mehrere Indikatoren, die zusammen ein Gesamtbild ergeben. Hierzu gehören zum Beispiel Zahlen zu Covid-Patienten in stationärer Behandlungen dazu, oder ob das Infektionsgeschehen in Clustern auftritt.
Was sagen andere Wissenschaftler?
Schon zu Beginn des November-Lockdowns äußerte sich der Wissenschaftler Matthias Schrappe gegenüber dem ZDF kritisch. Er bemängelte damals die hohe Dunkelziffer. Das wahre Infektionsgeschehen könne damit immer nur grob geschätzt werden.
Auch der ehemalige Direktor des Instituts für Virologie der Charité Detlev H. Krüger und der ehemalige Leiter Prof. Dr. Klaus Stöhr des Globalen Influenza und Pandemievorbereitungsprogrammes der WHO haben sich in einem offenen Brief kritisch gegenüber der Gesetzgebung anhand von Inzidenzwerten geäußert.
Sie kritisieren darin die hohen Schwankungen, die fehlende Unterscheidung zwischen Infizierten und Erkrankten und die Vernachlässigung der Umstände, in denen Menschen leben. Wichtig ist ihnen, das Infektionsgeschehen nach Bevölkerungsgruppen aufzuschlüsseln.
Wie können verlässlichere Infektionszahlen erhoben werden?
Um verlässlichere Zahlen zu erheben, braucht es bessere Datenquellen. Denkbar ist etwa, dass man die Daten der Krankenkassen heranzieht, um einen breiteren Schnitt durch die Gesellschaft abzubilden. Eine Erhebung des Alters, des Berufs oder des sozialen Status durch das Gesundheitsamt würde ebenfalls helfen, mehr Daten über die positiv getesteten Bevölkerungsgruppen zu bekommen.
Aus wissenschaftlicher Sicht wäre es auch hilfreich, eine repräsentative Gruppe der Bevölkerung zusammenzustellen und wiederholt zu testen. Matthias Schrappe hat dies unter dem Begriff Kohortenstudie vorgeschlagen. Diese Gruppen setzen sich aus einer bestimmten statistisch relevanten Anzahl an Menschen aus allen Bevölkerungsschichten zusammen. Damit hat man eine feste Gruppe, in der man repräsentativ für die Gesamtbevölkerung das Infektionsgeschehen abbilden und hochrechnen kann.
Was könnte außerdem helfen?
Ich plädiere dafür, dass detailliertere Daten zum Infektionsgeschehen öffentlich zugänglich gemacht werden, damit andere Wissenschaftler ebenfalls ihre Schlüsse daraus ziehen können und wir die Ausbreitung von Covid-19 noch besser verstehen können.
- Gespräch mit Jun. Prof. Tom Zimmermann
- ZDF: "'Wir sind im Bereich der Mutmaßung'"
- Detlev H. Krüger und Prof. Dr. Klaus Stöhr: Offener Brief an den Bundestag