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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Liebesszenen im Rampenlicht Diese Frau lehrt professionelles Nacktsein
Wenn auf der Bühne Stuntszenen gezeigt werden, sind sie akribisch durchgeplant. Und bei Sexszenen? Eine Bochumerin hat den Beruf der Intimitätskoordinatorin. Was dahintersteckt – und warum Kondome für sie auf die Bühne gehören.
Eine Szene, die sich schon tausendfach auf deutschen Bühnen abgespielt hat: "So reg dich, Holde, nicht, wie Heil'ge pflegen, derweil mein Mund dir nimmt, was er erfleht", sagt Romeo zu Julia, dann küsst er sie. So steht es in der fünften Szene des ersten Aktes des weltberühmten Stücks von Shakespeare. Regieanweisung: "Er küsst sie" und "küsst sie wieder."
Es klingt einfach klingt, ist es aber nicht. "Fürs Küssen gibt es schließlich Tausende Möglichkeiten", sagt Regisseurin Magz Barrawasser. Wie küsst man einen fremden Menschen, dem man im beruflichen Kontext zum ersten Mal begegnet? Wie sieht ein Kuss fürs Publikum "echt" aus? Und wie spielt man authentisch eine Sexszene, ohne dabei die eigenen Grenzen zu überschreiten?
"Jetzt küsst euch mal"
Ausführliche Antworten auf solche Fragen hat es lange nicht gegeben. "Jetzt küsst euch mal", hieß es dann aus der Regie, oder salopp: "Ziehst du für die Szene bitte das Oberteil aus?" Doch seit der #MeToo-Debatte spielen auch in der Film- und Theaterbranche persönliche Grenzen eine immer wichtigere Rolle, Strukturen von Machtmissbrauch stehen im Fokus.
Inzwischen gibt es einen eigenen Beruf, der sich um die intimen Grenzen der Schauspielerinnen und Schauspieler kümmert: Intimitätskoordination nennt er sich. Für den Theaterbereich gibt es nur eine einstellige Zahl an Intimitätskoordinatoren in Deutschland, Barrawasser ist eine davon.
Die Aufgabe: Intime Szenen vorbesprechen, planen und eine Produktion begleiten. Mitunter entsteht daraus eine genaue Choreografie: Die linke Hand liegt drei Sekunden dort, dann wandert sie den Rücken hoch, nach weiteren drei Sekunden fallen die Figuren aufs Bett. Körperliche Nähe – durchgeskriptet. "Es soll intim aussehen, sich aber nicht intim anfühlen", erklärt Barrawasser, die die Tätigkeit neben ihrem Regieberuf ausübt und sich damit auch im universitären Kontext befasst hat.
Intim heißt nicht gleich Sex
"Nein zu sagen ist in der Theaterwelt nicht immer leicht", sagt sie. Besonders jungen Schauspielenden falle es schwer, eigene Grenzen aufzuzeigen; ihnen werde vermittelt: Dein Körper ist Material. "Dabei hat jeder Mensch Grenzen", bringt Barrawasser in Erinnerung. Während es für die eine Person kein Problem sei, oberkörperfrei über die Bühne zu rennen, könnten bei einer anderen Person Grenzen überschritten sein, wenn es darum gehe, eine besonders expressive Emotion zu schauspielern.
Intim, das heißt deshalb nicht immer gleich Sex. Szenen, die Barrawasser mit Schauspielenden vorbespricht, drehen sich auch um Masturbation, erotischen Tanz, Geburt, Gewalt. Manchmal, so ihre Erfahrung, sagt jemand in der Vorbesprechung zu ihr: "Ach, für mich ist alles in Ordnung." Und dann, wenn sie konkreter nachfragt: "Du würdest auch dem Publikum dein gespreiztes nacktes Hinterteil zeigen?" kommt ein "Nein, das nicht".
Das "erste Mal" via Mikrofon
Für Barrawasser, die unter anderem Theatermanagement an der LMU München studiert und Fortbildungen in den USA absolviert hat, geht es darum, die Grenzen vorab auszuloten – und dann auszuprobieren. "Ausprobieren heißt noch nicht gekauft", bekräftigt sie dabei. In einem Fall habe sie beispielsweise eine Szene begleitet, bei der es um das erste Mal von zwei Jugendlichen ging.
"Es hat sich dann gezeigt, dass es nicht der richtige Weg ist, das Ganze körperlich auf die Bühne zu bringen", erinnert sich die Intimitätskoordinatorin. Herausgekommen sei am Ende eine Darstellung von Intimität per Stimme: Das Publikum bekam Raunen ins Mikrofon zu hören – das eigene Kopfkino lieferte die Bilder dazu. "Das szenische Erlebnis wurde dadurch viel intensiver", sagt Barrawasser und macht anhand des Beispiels deutlich: "Schauspielende sollten sich nicht ausgeliefert fühlen."
Dabei sei eine Haltung besonders wichtig: "Ein Nein ist kein Verbot, sondern ein Wegweiser", sagt sie. Man könne immer eine Lösung finden – auch ein Kuss könne fürs Publikum echt aussehen, wenn sich die Kieferknochen nur an einem Ankerpunkt berühren. "Wenn auf der Bühne jemand stirbt, fragt schließlich auch niemand: Ist die jetzt wirklich tot?", sagt Barrawasser.
Recherche für die Liebesszene
Was eine authentische Liebesszene überhaupt ausmacht, eignet sich Barrawasser auf ganz unterschiedlichen Wegen an. "Ich beobachte in meinem Alltag gerne Menschen, das hilft", sagt sie. Vor allem gehe es aber darum, zu fragen, was passend für die Figuren sei. Ist es ihr erster Kuss oder der tausendste? Ist es ein Abschiedskuss oder ein Hochzeitskuss?
"Ich kann auch vermitteln, wie man einen Orgasmus vortäuscht", sagt Barrawasser und lacht. Was für sie bei Liebesszenen unbedingt auf die Bühne gehört: Kondome. Denn die gehören auch in den meisten Fällen im echten Leben dazu, ein Weglassen vermittle gerade jungen Menschen ein falsches Bild. Wenn sie eine Szene begleitet, recherchiert sie dafür teilweise auch im Netz – wie zum Beispiel ein bestimmtes Sextoy funktioniert. "So bringe ich einen Wissenspool mit", sagt Barrawasser.
Figur und Person trennen
Ziel ist es auch, Klischees nicht zu reproduzieren. Das betrifft zum Beispiel intime Szenen zwischen Homosexuellen. "Das fängt schon dabei an, dass lesbische Frauen nicht immer nur kurze Haare haben müssen", sagt die 39-Jährige. Für die Künstlerinnen und Künstler sei es derweil wichtig, zwischen Rolle und Person klar zu trennen.
"Klar kann es vorkommen, dass sich jemand in den anderen verknallt", sagt Barrawasser. Sie trennt Arbeitskontext und Privates dabei schon in der Sprache: "Ich sage: Romeo küsst jetzt Julia, nicht Alex küsst jetzt Krissie", erklärt sie. Das sei ein Signal für das Gehirn, dass es gerade um eine Rolle gehe.
"Denn kehren wir das ganze mal um: Wie bedrohlich wäre es bei einer Vergewaltigungsszene, das nicht sauber zu trennen?", zeigt Barrawasser auf. Der Bedarf an mehr Intimitätskoordination in den Theatern ist aus ihrer Sicht in jedem Fall gegeben. "Das melden mir auch die Schauspielenden zurück", sagt sie. In den Budgets der Theaterhäuser müsse das derweil erst noch ankommen.
- Eigene Recherche