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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Hochwasser im Ahrtal "Der Staat kann keine Krise"
Die Hochwasserkatastrophe hat im Ahrtal eine Spur der Verwüstung hinterlassen. Ein Besuch in der Region, in der man von der Politik enttäuscht ist. Und abends mit den Tränen kämpft.
Am späten Montagnachmittag kommt man als Normalbürger gar nicht weit ins Ahrtal hinein. Die Straßen sind stark beschädigt. Der Asphalt ist von Kratern zersetzt, ein Durchkommen mit dem Auto nahezu unmöglich – auch wenn das Hochwasser mittlerweile gewichen ist.
Die Polizei zählt für den Kreis bei Bonn 122 Tote, 763 Verletzte und 155 Menschen, die immer noch vermisst werden. Das Mobilfunknetz ist auch Tage nach dem Hochwasser weiterhin durch massive Ausfälle belastet. Ganze Landstriche sind zerstört, Häuser eingestürzt, Autos sind mitgerissen worden.
Die malerische Region, die Jahr für Jahr Tausende Touristen mit Weinbergen und "rheinländischer Dolce Vita" lockt, ist nun kaum noch zu erreichen.
In der Ortschaft Liers angekommen warnt ein Bürger sogleich, nicht die Brücke zu überfahren. "Auch wenn es einige tun, die Brücke ist einsturzgefährdet", sagt er. "Das ist lebensgefährlich!" Der Anblick der Brücke lässt daran keinen Zweifel.
Geisterstadt statt Weinidylle
Die Stimmung gleicht einer Geisterstadt. Die Rollläden an den Häusern sind heruntergezogen. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Schrott und umgefallene Bäume überall auf den Straßen.
Auch Einsatzkräften oder Helfertrupps begegnet man hier nicht mehr. Auf dem Weg ins Tal kommt lediglich ein Bagger entgegen, der allerlei Sperrmüll und Schrott geladen hat. In der Ortschaft plätschert nur das Wasser in einem Bach. Sonst ist es still im Katastrophengebiet.
Dann trifft man doch einige Bewohner von Liers. Sie erzählen davon, wie schnell alles am Tag der Flut passierte: "Ich war noch im Keller", meint ein 56-jähriger Anwohner. "Da kam plötzlich das Wasser aus den Fugen." Dann habe er ein Rauschen gehört, schon schwappte vom Nachbarn die meterhohe Flutwelle herunter.
Seine Schwester erzählt, dass sie eigentlich auf dem Berg wohne, aber am Tag der Flut im Tal gewesen sei. Sie sei am nächsten Tag in ihr Haus weiter oben am Hang geflohen, "sonst wäre ich in den nächsten Tagen nicht nach Hause gekommen".
"Die Leute verstummen, wenn sie hier ankommen"
Auch Christian Conrad, ein Anwalt aus Köln, hilft seit Tagen bei den Aufräumarbeiten – Eltern und Schwiegereltern hatten um Hilfe gebeten. Conrad beschreibt im telefonischen Gespräch mit t-online die Lage vor Ort: "Da sind Matsch, Schlamm, Fäkalien, Gülle von den Feldern, Öltanks, Autos, die abgesoffen sind – das liegt im ganzen Ahrtal. Man kann es sich nicht vorstellen. Die Leute verstummen, wenn sie hier ankommen."
Und weiter: "Die Leute, die da vor Ort helfen, auch Soldaten, Polizei und THW, tun ja, was sie können. Aber man hat schon das Gefühl, dass das nicht so richtig gut organisiert ist. Ich glaube, es gab keinen großen Plan, wie man mit so einer Katastrophe umgeht." Conrad arbeitet für die Kanzlei Höcker aus Köln, die presserechtlich Politiker aller im Bundestag vertretener Parteien vertritt – auch der AfD.
Am Sonntag habe Conrad erstmals Hilfe von Soldaten der Bundeswehr erhalten: "Nach vier Tagen kam das erste Mal jemand vom Staat und hat gesagt: 'Hallo, brauchen Sie ein Wasser?' Da haben wir ein Sechserpack bekommen." Das hätten sie dann zu dem kleinen Berg an Wasser gestellt, das man in den Vortagen von freiwilligen Helfern bekommen habe. Conrad denkt sich: "Der Staat kann keine Krise."
"Der Zusammenhalt ist riesig"
Conrad sieht die Situation zwiespältig: "Andererseits denk ich mir dann schon: Ja, wie sollte man es denn machen? Eigentlich braucht man pro Haus fünf bis zehn Leute, die Haus und Hof aufräumen. So viele einsatztaugliche Soldaten haben wir wahrscheinlich gar nicht. Und natürlich ist es leicht, das zu kritisieren, aber mir ist schon klar, dass es irgendwo Grenzen gibt."
Conrad lobt allerdings die Solidarität in der Region: "Der Zusammenhalt ist riesig, das ist unbeschreiblich – aber ansonsten würde es wahrscheinlich auch nicht gehen."
"Die Leute funktionieren tagsüber irgendwie. Aber wenn man abends mit denen zusammensitzt, dann löst sich die Anspannung. Es fließen Tränen. Da haben viele ihr Leben, ihren gesamten Besitz verloren." Auf Twitter berichtet Conrad von seinen Erlebnissen im Ahrtal – und ärgert sich über die politisch Verantwortlichen: "Ich habe hier noch keinen Politiker mit einer Schaufel gesehen."
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Ein Beitrag zeigt Conrad im Trainingsanzug auf einer vom Hochwasser beschädigten Couch. Dazu schreibt er: "Schickt Tausende Soldaten. Container, Wasser, Essen, Generatoren, Handschuhe, Schaufeln, alles. Und DANACH könnt ihr über Politik reden. Das hilft hier nämlich gerade niemandem."
Tage später meint Conrad zu t-online: "Ich wollte einfach, dass jemand Hilfe schickt. Politik, Klimawandel – diese Debatten interessieren die Leute hier gerade null."
Im Ahrtal seien derzeit rund 2.500 Kräfte im Hilfseinsatz, darunter 800 Soldaten der Bundeswehr, 200 Helfer des Technischen Hilfswerks und rund 800 Feuerwehrleute, berichtet der Leiter des Krisenstabes des Landes, Thomas Linnertz. Um die 300 Menschen seien für die psychosoziale Notbetreuung im Einsatz. Es sei eine "ungeheuer große Zahl von Menschen" auf einer "ungeheuren Fläche" betroffen.
"Totales Versagen" seitens der Politik
Was in der scheinbar verlassenen Ortschaft ebenfalls auffällt: Einkaufen kann man hier nicht. Der Supermarkt an jeder Ecke, wie man es aus der Großstadt kennt, fehlt. Wie verpflegen sich die Menschen hier?
"Von außen kam wenig Unterstützung", sagt ein Anwohner, "aber ein paar Leute haben das hier selber organisiert, im Dorf rumgefragt, wer was braucht, eine Liste gemacht – und das dann privat besorgt". Wie die Nachbarn zusammengehalten hätten, sei großartig gewesen, lobt er.
"Totales Versagen" nennt auch er hingegen die Hilfe von der Politik. Unterstützung für die Menschen vor Ort sei von Fremden und Jugendgruppen gekommen, die aus der Region zu Fuß oder per Fahrrad in die Ortschaft gekommen seien und ihre Hilfe angeboten hätten. Teils hätte die Polizei auch Helfer abgewiesen und weggeschickt.
Oft heißt es, Freiwillige sollten nicht in die Krisengebiete fahren, um sich nicht in Gefahr zu begeben und nicht die Rettungskräfte bei der Arbeit zu behindern. Das sehen die Menschen in Liers anders. "Je mehr Hände, desto schneller ist es zu Ende", so ein weiterer Bewohner.
Auch der 56-Jährige erzählt vom vielen Schlamm an seinem Haus. "Da bist du über jeden froh, der dir hilft." Ein Pärchen habe mit eigenen Schaufeln in der Hand bei ihm angeklopft – und dann sieben Stunden geschuftet, um zu helfen.
So leer wie der Ort an diesem Abend wirkt, könnte man meinen, er sei in großer Eile evakuiert worden. Doch: "Evakuiert wurde hier niemand", erzählt ein Bewohner. "Wir haben uns selbst evakuiert."
Für die leeren Straßen gibt es dann aber doch einen Grund, wie er weiter sagt: "Die Leute sind hier einfach kaputt, sie können nicht mehr." Nach den Aufräumarbeiten des Tages sind sie schlicht geschafft.
Mitarbeit: Lena Kappei
- Beobachtungen und Gespräche vor Ort
- Telefonat mit Christian Conrad
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa