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«Wir wissen nicht viel darüber, was im Schädel los ist»


Nach schweren Hirnverletzungen
"Wir wissen nicht viel darüber, was im Schädel los ist"

Von dpa
Aktualisiert am 21.08.2024Lesedauer: 4 Min.
IntensivstationVergrößern des Bildes
Angehörige sprechen häufig mit Schwerkranken, auch wenn diese nicht reagieren. (Quelle: Boris Roessler/dpa/dpa-bilder)

Bei Menschen mit schweren Hirnschäden wissen auch die Fachleute oft nicht, was wirklich im Gehirn vor sich geht. Eine Studie gibt Hinweise darauf, dass viele Kranke doch einiges wahrnehmen.

Nach einer schweren Hirnverletzung eines Menschen, der dann oft im Koma auf der Intensivstation liegt, stellen sich Angehörige und medizinisches Personal irgendwann die Frage: Hat der Patient oder die Patientin das Bewusstsein wieder erlangt? Um das zu ergründen, wird die verletzte Person zum Beispiel gebeten, eine Hand zu bewegen. Erfolgt keine Reaktion, gehen viele davon aus, dass sie sich noch in einem so tiefen Koma befindet, dass sie nichts mitbekommt.

Doch Studien weisen darauf hin, dass dieser Schluss nicht stimmen muss. Denn es gibt Menschen, die äußerlich nicht auf eine Ansprache reagieren, deren Gehirne aber trotzdem kognitiv arbeiten. Frühere Studien an einzelnen Forschungszentren fanden eine solche Aktivität bei ungefähr 15 bis 20 Prozent der Untersuchten. Eine neue Studie im renommierten Fachjournal "New England Journal of Medicine" kommt nun auf einen höheren Wert von etwa 25 Prozent.

Erstautorin Yelena Bodien vom Zentrum für Neurotechnologie und Neurorehabilitation am Massachusetts General Hospital erklärt: "Einige Patienten mit schweren Hirnverletzungen scheinen ihre Außenwelt nicht zu verarbeiten. Wenn sie jedoch mit fortschrittlichen Techniken wie funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) und Elektroenzephalographie (EEG) untersucht werden, können wir Hirnaktivitäten feststellen, die auf etwas anderes schließen lassen."

Unfälle, Schlaganfälle, Herz-Kreislauf-Stillstände

In der Studie untersuchten die Fachleute Patientinnen und Patienten mit schweren Hirnverletzungen aus den USA und Europa. Sie hatten - oft schon vor Monaten - etwa einen Verkehrsunfall mit Schädel-Hirn-Trauma, einen Schlaganfall oder eine Wiederbelebung nach Herz-Kreislauf-Stillstand. Während in Tests ihre Gehirne gescannt wurden, erhielten sie Anweisungen, zum Beispiel: "Stellen Sie sich vor, sie öffnen und schließen Ihre Hand". Oder sie sollten sich vorstellen, eine Sportart auszuführen.

241 Teilnehmende zeigten, normalerweise im Bett liegend, zwar keine äußerlich sichtbare Reaktion - aber in den Tests befolgten 60 von ihnen die Anweisungen trotzdem minutenlang innerlich. Diese Menschen seien also aufmerksam, verstünden Sprache und hätten ein Kurzzeitgedächtnis, schreiben die Autorinnen und Autoren.

Studie wirft ethische Frage auf

Die über viele Jahre durchgeführte internationale Studie sei sehr bedeutend, meint Julian Bösel, Sprecher der Kommission Neurologische Intensivmedizin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Denn sie umfasse die bisher größte Patientengruppe, sei an sechs medizinischen Zentren durchgeführt worden und habe das Phänomen systematischer als sonst erfasst, sagt der Neurologe, der unter anderem an der Uniklinik Heidelberg tätig ist und nicht an der Studie beteiligt war. Die Untersuchung adressiere unter anderem eine zentrale ethische Frage bei solchen Menschen: "Ob man die Therapie fortführen sollte oder nicht."

Schwere Hirnverletzungen verursachen häufig eine Beeinträchtigung des Bewusstseins. Als Koma bezeichnet wird der Zustand kompletter Bewusstlosigkeit ohne Augenöffnen auch auf Schmerzreize hin. Öffnet jemand gelegentlich die Augen und hat unterscheidbar Schlaf-Wach-Phasen, aber keine klinischen Hinweise auf Kontaktfähigkeit, dann sprach man früher vom Wachkoma, heute vom Syndrom reaktionsloser Wachheit (SRW). Davon abgegrenzt wird der Zustand mit einem erhaltenen Minimalbewusstsein, wenn Augenfolgebewegungen vorhanden sind oder aber einfache Aufforderungen befolgt werden.

Ratsam wären mehr Untersuchungen, mehr Zeit

Solche Bewusstseinsstörungen können Tage, Wochen, Monate oder auch Jahre anhalten. "Studien wie die jetzige könnten in bestimmten Konstellationen Anlass geben, mehr von diesen Patienten mit EEG zu untersuchen und sie über längere Zeit zu beobachten", meint Bösel. Man könne daraus ableiten, dass man in Zweifelsfällen ausgewählten Patienten mehr Zeit einräumen sollte.

Unklar sei allerdings, ob spezielle Therapien solchen Menschen helfen. Seit längerem werde versucht, mit Verhaltenstherapien, Medikamenten oder anderen Verfahren etwas zu bewirken, bisher meist ohne durchschlagenden oder nachhaltigen Erfolg. Ein Team des Massachusetts General Hospital setzt zudem moderne Technik ein: Mithilfe von Gehirn-Computer-Schnittstellen soll eine Verbindung der Gehirne von solchen Patientinnen und Patienten mit Computern hergestellt werden, damit sie sich mitteilen können.

Gehirnaktivität ist nicht zwingend Bewusstsein

Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung, hingegen findet, dass die neue Studie nichts fundamental Neues aussagt. "Dass es das Phänomen gibt, ist klar." Aber nur, dass elektrische Muster oder aktive Regionen im Gehirn gemessen würden, heiße nicht, dass diese Menschen wirklich eine höhere Form von Bewusstsein hätten. Solche Aktivität finde man auch im fMRT oder EEG von narkotisierten Menschen.

Einig sind sich beide Experten darin, wie man mit solchen Menschen, die nicht reagieren, umgehen sollte. "Die Menschen auf den Intensivstationen und Reha-Stationen sollten immer so behandelt werden, als bekämen sie etwas mit. Man redet mit ihnen und geht respektvoll mit ihnen um. Das ist auch heute schon so", sagt Erbguth.

Zahl der Betroffenen ungewiss

Wie hoch also ist die Rate an Menschen, die kognitive Fähigkeiten aufzeigen, aber bei denen Verhaltensanzeichen fehlen? Sowohl die Studien-Autorinnen und -Autoren als auch die deutschen Experten erklären, definitive Aussagen dazu seien schwierig. In der neuen Studie waren die Tests nicht standardisiert und die Patientinnen und Patienten selektiert. "Außerdem waren es völlig unterschiedliche Ursachen von Hirnschädigungen, die man hier zusammengefasst hat", meint Erbguth.

Trotzdem, betont Bösel, zeigten die Prozentzahlen von Studien wie dieser: "Wir sollten uns darüber klar sein, dass vielleicht noch mehr bewusstseinsgestörte Patienten als gedacht etwas von dem mitbekommen, was rund um sie vorgeht." Seiner Erfahrung nach sei es noch vielerorts üblich, dass am Bett von komatösen Patientinnen und Patienten gesprochen werde, als seien diese nicht da. "Viele Pflegekräfte machen das dagegen oft sehr gut, indem sie den Patienten begrüßen, sich vorstellen, ihm sagen, was sie mit ihm machen."

Das sollten alle beherzigen, auch Ärztinnen und Ärzte bei der Visite oder Besuchspersonen, und etwa am Krankenbett nicht über angsteinflößende Themen sprechen. "Wir stehen am Bett und wissen nicht so viel darüber, was wirklich gerade im Schädel los ist, das muss man ganz ehrlich sagen."

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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