Fall Peggy Die Geschichte eines Skandals
Peggy Knobloch verschwand am 7. Mai 2001 im oberfränkischen Lichtenberg - spurlos. Es gab keinerlei Hinweise, keine Zeugen, nicht einmal die Leiche des neunjährigen Mädchens wurde gefunden. In einem umstrittenen Prozess verurteilte das Landgericht Hof schließlich den geistig behinderten Ulvi Kulac im April 2004 wegen Mordes zu lebenslanger Haft.
Doch damit war und ist der Fall Peggy keineswegs abgeschlossen: Zahlreiche Ungereimtheiten, Widersprüche und Ermittlungspannen schürten immer wieder Zweifel an der Entscheidung des Gerichts. Jetzt hat das Gericht Bayreuth entschieden: Der Prozess muss neu aufgerollt werden. Ein ungewöhnlicher Vorgang in der Justiz.
Soko sollte Ergebnisse liefern
Die Begründung für die Wiederaufnahme lässt erahnen, dass dem Urteil wohl ein regelrechter Polizeiskandal vorausging. Die Soko Peggy stand gewaltig unter politischem Druck, sollte endlich einen Täter präsentieren. Und den glaubten die Ermittler in dem geistig zurückgebliebenen Ulvi Kulac gefunden zu haben. Was jetzt noch fehlte, war ein Geständnis.
Am 2. Juli 2002 gelingt den Beamten angeblich der Durchbruch. Die eigentliche Vernehmung war schon beendet, der Anwalt gerade gegangen, da habe Kulac plötzlich ein Geständnis ablegen wollen. Detailliert und präzise habe er aus freien Stücken den Tathergang geschildert. Leider war ausgerechnet in diesem entscheidenden Moment das Aufnahmegerät kaputt. Die Ermittler fertigten daher ein Gedächtnis-Protokoll an.
"Dieses Geständnis war hochgradig manipulativ"
Zu dem Vernehmungsteam gehörten auch zwei Beamte, die zuvor in der amerikanischen REID-Verhörmethode geschult wurden. "Ziel dieser Methode ist ein Geständnis. Das Verhör ist so aufgebaut, dass mit einem Wechsel zwischen Vertrauensbildung und Angriff gearbeitet wird. Das dient dazu, den Beschuldigten einzuschüchtern und ihm keine andere Wahl zu lassen. Beispielsweise gibt es suggestive Fragen", erläutert Christoph Lemmer. Der Journalist hat noch einmal die Akten gelesen, Aussagen überprüft und Personen befragt. Durch seine akribischen Recherchen ist er mit der Materie mittlerweile bestens vertraut.
In einer Zeitspanne von nur 30 Minuten, zwischen 13.15 und 13.45 Uhr, habe Kulac demnach Peggy abgepasst, sie durch durch das halbe Dorf verfolgt und schließlich eingeholt. Er habe sie gepackt, gewürgt, ermordet und die Leiche abgelegt, um Hilfe zu holen. Ein Freund sei mit einem Auto gekommen, man habe die Leiche in eine andere Ortschaft gebracht und unter einen Baum gelegt. Dann sei man zurückgefahren.
Hat Kulac dieses Geständnis unter polizeilichem Druck abgelegt? "Ulvi Kulac hat einen Intelligenzquotienten zwischen 54 und 67. Ich habe ihn ja selber erlebt, er ist ein Mensch, der auf kurzfristige Befriedigung aus ist. Ein schnelles Bier, eine schnelle Zigarette – dafür tut er eigentlich alles. Alles, was längerfristig gedacht ist und was zwei, drei Zwischenschritte erfordert, ist nicht sein Ding. Insofern kann ich mir nicht vorstellen, dass er den Vernehmern sehr lang standhalten konnte."
"Ich würde vermuten, dass Ulvi Kulac mehr oder weniger alles in den Mund gelegt wurde, was in diesem Geständnis herausgekommen ist", sagt Lemmer. Die Soko Peggy hatte offenbar eine Tathergangshypothese für das Verschwinden von Peggy entworfen und Kulac suggestiv dazu befragt. Musste der geistig-behinderte Mann den Hypothesen nur noch zustimmen?
Gutachter segnet Geständnis ab
Der Berliner Psychiater Hans-Ludwig Kröber hatte ein Glaubwürdigkeitsgutachten zu dem Geständnis angefertigt. Einige seiner Kollegen üben vernichtende Kritik daran, es enthalte handwerkliche Fehler und gravierende Mängel. Kröber habe das Zustandekommen des Geständnisses nicht hinterfragt, er habe nicht einmal gewusst, dass es eine Tathergangshypothese gab, an der sich die Ermittler entlang hangelten.
Doch Gutachter Kröber war überzeugt: Kulac hatte aus freien Stücken die Wahrheit gesagt, sein Geständnis sei echt. Nicht alle Insider teilen diese Auffassung: "Das Gutachten ignoriert die gesamte Vernehmungsgeschichte, es ignoriert das Zustandekommen des Geständnisses - es dürfte eigentlich wertlos sein", meint dagegen Lemmer.
Ulvi Kulac wurde im am 30. April 2004 aufgrund des Geständnisses und des Gutachtens zu lebenslanger Haft verurteilt. "Das Geständnis war tatsächlich der einzige Beweis, es gab nichts anderes. Kein Indiz, keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren - und schon gar keine Leiche. Nichts, gar nichts. Nur alleine das Geständnis", so Lemmer.
Vieles deutet auf gravierendes Fehlurteil hin
Schon früh kamen Zweifel an dem Urteil auf. Kulac zog sein Geständnis schon bald wieder zurück. Seine angeblichen Helfer hatten wasserdichte Alibis. Ein V-Mann, der Kulac ausgehorcht hatte, widerrief alle seine Angaben. Aussagen, die den geistig-behinderten Mann entlastet hätten, hatten die Ermittler ignoriert. Die Spuren von weiteren Verdächtigen waren nicht verfolgt worden.
Zahlreiche Details legten die Vermutung nahe, dass hier ein krasses Fehlurteil getroffen worden war. Nun wird der Prozess gegen Ulvi Kulac ab dem 10. April neu aufgerollt.
Verurteilter Kinderschänder unter Verdacht
Mittlerweile gibt es einen Verdächtigen aus Sachsen-Anhalt, der häufig in Lichtenberg bei seinem Adoptivbruder zu Besuch war. Holger E. aus Halle "war in Peggy regelrecht vernarrt", so Lemmer. Er stand schon früher unter Verdacht, doch die Beamten verfolgten diese Spur nicht weiter.
"Holger E. ist im Sommer 2000 zum ersten Mal in Lichtenberg zu Besuch gewesen und ab dieser Zeit hat sich das Verhalten von Peggy in auffälliger Weise verändert. Das ist erst einmal nur ein zeitlicher Zusammenhang. Ob es auch eine kausale Verbindung gibt, kann man momentan noch nicht sagen. Aber es spricht einiges dafür, dass der Grund in einem Missbrauchserlebnis von Peggy liegen könnte und dass sich dieses Erlebnis wiederholt hat", beschreibt Lemmer ein auffälliges Detail.
Tatsächlich veränderte sich die bis dahin aufgeweckte Neunjährige: Sie wurde still und in sich gekehrt, ihre Leistungen in der Schule sackten dramatisch ab. "Es gipfelte darin, dass sie ihre Unterhosen versteckt hat, dass sie nicht mehr alleine in ihrem Bett schlafen wollte, dass sie Männchen mit übergroßen Genitalien gemalt hat", sagt Lemmer. Hat Holger E. die Schülerin missbraucht?
Erst nach dem Prozess kamen seine pädophilen Neigungen ans Licht. Im Internet bot der Mann kinderpornografische Aufnahmen seiner zweijährigen Tochter an. Später gestand er, die Tochter seines Bruders missbraucht zu haben. Tatort: Lichtenberg, Zeitpunkt: Ostern 2001 - unmittelbar vor Peggys Verschwinden. Die missbrauchte Nichte war genauso alt wie Peggy.
Seit Februar 2013 sitzt Holger E. im Gefängnis. Sechs Jahre Haftstrafe für den Missbrauch seiner eigenen Tochter.
"Gesetzlosigkeit und Unordnung"
Warum sich die Soko Peggy bei ihren Ermittlungen so hartnäckig auf Ulvi Kulac konzentriert hat und andere Hinweise ignorierte, ist schwer nachzuvollziehen. Hat die bayerische Landesregierung Druck ausgeübt? Immerhin wurde eine zweite Sonderkommission Peggy gebildet, als die erste keine schnellen Ergebnisse liefern konnte. Wurde Kulac möglicherweise ein Opfer dieses Erfolgsdrucks?
"Da war einer, dem man die Tat anhängen und damit den Fall erledigen konnte. Hinterher konnte man sagen: Bei uns wird so ein Fall geklärt und der Täter kommt hinter Schloss und Riegel. Das ist eine völlig falsch verstandene Form von Law und Order. Sie hat dazu geführt, dass das Gegenteil von Law und Order eingetreten ist, nämlich Gesetzlosigkeit und Unordnung - indem man einen Unschuldigen verurteilt hat und einen Täter, wer auch immer das gewesen sein mag, frei herumlaufen lässt", vermutet Christoph Lemmer.
Ina Jung, Christoph Lemmer: Der Fall Peggy. Die Geschichte eines Skandals.
Verlag Droemer Knaur, 2013