Urteil in Chemnitz Zorn und Erleichterung nach der Verkündung
Vor knapp einem Jahr wurde Daniel H. in Chemnitz erstochen, nun erging ein Urteil gegen den Syrer Alaa S. Die Verteidigung ist empört, die Familie des Toten nahm das Urteil regungslos wahr.
Auf dem Innenhof hinter dem Gericht fließen Tränen. Während im Foyer die Verteidigung des wegen Totschlags verurteilten Syrers den Gang in die nächste Instanz ankündigt, wird die frühere Lebensgefährtin von Daniel H. von Begleitern getröstet. Knapp ein Jahr nach dem Tod des 35-Jährigen durch Messerstiche sorgt das Urteil des Landgerichts Chemnitz am Donnerstag für unterschiedliche emotionale Reaktionen bei Prozessbeteiligten und Zuschauern.
Verteidiger reagieren erzürnt
Neun Jahre und sechs Monate Freiheitsstrafe lautet die Entscheidung der Schwurgerichtskammer in Dresden, wo der Prozess aus Sicherheitsgründen stattfand. Nach 19 Verhandlungstagen sind die drei Berufsrichter und zwei Schöffen überzeugt: Alaa S. ist mitschuldig am Tod des Deutschen am Rande des Chemnitzer Stadtfestes am 26. August 2018 – und dafür soll er wegen gemeinschaftlichen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung hinter Gitter. Nach seinem mutmaßlichen irakischen Mittäter wird nach wie vor international gefahndet.
Mit einer bedauernden Kopfbewegung in Richtung seiner Unterstützer auf den Besucherplätzen und gesenktem Kopf wird der 24-jährige Syrer nach der Urteilsverkündung aus dem Sicherheitssaal des Oberlandesgerichtes geführt. Seine Verteidiger reagieren erzürnt. Anwältin Ricarda Lang beklagt, das Urteil habe bereits zu Prozessbeginn festgestanden und wäre vor einem Gericht in den alten Bundesländern so nie gesprochen worden.
"Wir haben bereits Revision eingelegt namens und im Auftrag unseres Mandanten", verkündet sie wenige Minuten nach dem Urteilsspruch. Die Verteidiger hatten im Plädoyer einen Freispruch, die Aufhebung des Haftbefehls und eine Haftentschädigung aus Mangel an Beweisen gefordert. "Das Urteil ist falsch", wettert Langs Anwaltskollege Frank Wilhelm Drücke.
Staatsanwalt hatte zehn Jahre Haft beantragt
Dann holt Ricarda Lang zur Rundumschelte aus. "Das ist ein trauriger Tag für den Rechtsstaat", sagt sie und fügt an: "Das Urteil stand schon am ersten Tag fest." Sie hatte bereits im Vorfeld versucht, den Prozess in ein anderes Bundesland verlegen zu lassen, war damit aber vor dem Bundesgerichtshof gescheitert. "Ich bin auch davon überzeugt, wenn dieses Verfahren bei einem anderen Gericht stattgefunden hätte, wie zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Hamburg oder wo auch immer, in einem anderen Bundesland, in einer anderen Stadt, dass es niemals zu einer Verurteilung gekommen wäre", behauptet sie.
Sie unterstelle dem Gericht zwar keine Motive – es sei aber nicht unbeeinflusst von den politischen Verhältnissen in Chemnitz. "Ich glaube nicht, dass dieses Gericht sich davon freimachen konnte." Sie und ihre Kollegen hätten Alaa S. schon am ersten Verhandlungstag gesagt, dass er verurteilt werden würde. "Der Mandant war auf dieses Urteil vorbereitet", berichtet sie.
Staatsanwalt Stephan Butzkies, der zehn Jahre Haft für den Angeklagten beantragt hatte, sieht sich in seiner Beurteilung bestätigt. Dass es irgendeine Einflussnahme auf ihn gegeben habe, weist er weit von sich. "Ich kann Ihnen versichern, dass auf mich persönlich von irgendwelchen übergeordneten Stellen in keiner Weise irgendwie Druck ausgeübt worden ist", sagt er.
"Hetzjagden" beschäftigten das ganze Land
Nahezu regungslos nehmen die Schwester und die Mutter von Daniel H., die als Nebenklägerinnen im Saal sitzen, den Urteilspruch auf. Nach Verhandlungsende ziehen sie sich umgehend zurück. "Wir sind mit dem Urteil zufrieden", gibt Anwalt Oliver Minkley als Vertreter der Schwester die Reaktion wieder.
Vor knapp einem Jahr hatten die Folgen des Verbrechens national wie international ein Schlaglicht auf Chemnitz geworfen. Die große, aber oftmals übersehene ostdeutsche Stadt mit ihren mehr als 240.000 Einwohnern wurde als Nazi-Hochburg abgestempelt, rechte Demonstrationen formierten sich. Am 26. August 2018 mobilisierten Fußball-Hooligans und Neonazis spontan rund 1.000 Menschen. Dabei kam es zu fremdenfeindlichen Übergriffen, an denen sich später der Streit in Landes- und Bundespolitik über "Hetzjagden" entzündete. Aus Sicherheitsgründen wurde das Stadtfest vorzeitig beendet.
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Nun richtet sich der Blick gleich wieder nach Chemnitz: Am Freitag beginnt ein Bürgerfest – als Ersatz für das abgesagte Stadtfest. Besonders aber steht der Sonntag im Fokus: Denn zusätzlich zum Bürgerfest und einer großen Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbunds hat die rechtsextremistische Bewegung Pro Chemnitz eine Kundgebung geplant – und unmittelbar nach Urteilsverkündung auf ihrer Facebook-Seite zur Teilnahme aufgefordert.
- Nachrichtenagentur dpa