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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Impfkampagne in Gefahr Experten fordern: "Kein Biontech mehr für Menschen über 60"
Johnson & Johnson wird nur noch eingeschränkt empfohlen. Ökonom Sebastian Dullien sieht dadurch die Impfkampagne gefährdet und hat einen radikalen Vorschlag. Damit steht er nicht allein.
Die Woche startet mit einer schlechten Nachricht für die Bekämpfung der Corona-Pandemie in Deutschland: Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat das Vakzin von Johnson & Johnson nur noch für Menschen ab 60 Jahren empfohlen. Grund ist wie bei Astrazeneca ein etwas erhöhtes Risiko für seltene Thrombosen. Die Gesundheitsminister haben daraufhin die Priorisierung für das Vakzin aufgehoben. Es gilt damit die gleiche Regelung wie für den Impfstoff von Astrazeneca – wer sich nach ärztlicher Beratung damit impfen lassen will, kann dies nun tun, unabhängig vom Alter.
"Kein Biontech mehr für Ältere"
Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), fordert nun, dass Menschen über 60 keine Wahlfreiheit mehr haben und nur noch mit Astrazeneca und Johnson & Johnson geimpft werden sollten. Ansonsten sieht er die Impfkampagne in Gefahr. "Die Regel sollte sein: Kein Biontech mehr für Ältere, außer es gibt einen richtig guten Grund", sagte Dullien zu t-online.
Denn rund sieben Millionen Menschen über 60 seien noch ungeimpft, schätzt der Institutsdirektor. Von Johnson & Johnson bekommt Deutschland zwischen Juni und Juli um die zehn Millionen Dosen. Da es von diesem Vakzin auch nur eine Impfung für den vollständigen Schutz braucht, könnte diese Gruppe damit komplett geimpft werden – und es wären immer noch Dosen übrig.
Amtsarzt Larscheid: "Das wäre konsequent"
Der Berliner Amtsarzt Patrick Larscheid unterstützt die Forderung nach einer klaren Regelung des Gesetzgebers, Ältere nur noch mit Astrazeneca oder Johnson & Johnson zu impfen. "Das wäre konsequent und würde ein Problem lösen", sagte Larscheid t-online. "Es würde Klarheit schaffen und die sehr schwierige Abwägung nicht mehr auf Patienten abwälzen."
Larscheid sieht ansonsten die Gefahr, dass die Impfstofffrage zunehmend moralisch aufgeladen wird und Ältere verurteilt würden, wenn sie sich für Biontech entschieden. "Die Betroffenen aber tragen keine Schuld am Impfstoffmangel und können auch die Fragen der Verteilung nicht klären." Der Amtsarzt kritisiert die Kommunikation der Bundesregierung bei dem Thema scharf – eine Diskussion über die Verteilung von Impfstoffen hätte schon viel früher breit geführt werden müssen, findet er.
Laut Gesundheitsminister Jens Spahn haben die meisten der über 60-Jährigen aber bereits einen festen Impftermin. Denen ein Angebot mit Johnson & Johnson zu machen, sei deshalb nicht mehr möglich.
Was passiert, wenn nur noch mit Biontech und Moderna geimpft wird?
Sollten die Deutschen die Impfstoffe von Astrazeneca und Johnson & Johnson jetzt komplett ablehnen, verzögert sich die Impfkampagne und damit das Ziel, eine Herdenimmunität gegen das Virus herzustellen. Würden nur noch Biontech und Moderna verimpft, erhielten bis Ende Juli um die 50 Prozent der Deutschen den vollen Impfschutz von Erst- und Zweitimpfung. Für eine Herdenimmunität bräuchte es allerdings 70 Prozent vollständig geimpfte Personen.
Einer Simulation des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) zufolge könnten bei einem Totalausfall von Astrazeneca und Johnson & Johnson alle Erwachsenen erst im November vollständig geimpft sein, statt wie bislang berechnet Ende September. Doch bereits die erste Impfdosis schützt vor einem besonders schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung.
Wenn alle bislang zugelassenen Impfstoffe auch genutzt würden, könnten bereits Anfang Juli alle Erwachsenen den ersten Piks erhalten haben. Auch das würde sich positiv auf die Infektions- und Todeszahlen auswirken. Fallen Astrazeneca und Johnson & Johnson dabei komplett aus, wären wir erst Ende September an diesem Punkt. Die Simulation ist allerdings ein vereinfachtes Modell und basiert auf den Lieferverträgen. Es kann also durchaus sein, dass alle Erwachsenen bereits vor November vollständig geimpft sein könnten, sofern alle dies auch wollten.
Eine Frage der Gerechtigkeit
In diesen Berechnungen fehlt aber noch eine wichtige Gruppe: Kinder und Jugendliche. In absehbarer Zeit wird für sie nur Biontech zugelassen werden. Das knappe Angebot des mRNA-Impfstoffs muss also auf noch mehr Menschen aufgeteilt werden. "Es ist fraglich, ob es bis zum Sommer am Ende noch für die Kinder und Jugendlichen reicht, wenn Biontech weiter auch an Ältere geimpft wird", so Dullien.
Deshalb wäre es laut dem Ökonomen sinnvoll, wenn sich jetzt so viele Erwachsene wie möglich mit den Vektorimpfstoffen von Astrazeneca und Johnson & Johnson impfen lassen würden. "Irgendwann wird genügend Impfstoff von Biontech für alle da sein. Die Frage ist nur: Wann? Doch die Impfgeschwindigkeit jetzt ist entscheidend. Jeder Tag, an dem wir schnell impfen, rettet Leben."
"Solidarität von allen gefordert"
Wie viele Menschen sich jetzt freiwillig mit Astrazeneca und Johnson & Johnson impfen lassen werden, lässt sich nicht vorhersagen. Bei Sonderimpfterminen wie am Wochenende in der Zentralmoschee in Köln standen 2.000 Impfdosen zur Verfügung und es bildeten sich lange Schlangen vor dem Gebäude – ein Indiz, dass die Menschen die Vektorimpfstoffe trotz der Stiko-Empfehlung annehmen. Auch Dullien, der selbst jünger ist als 60 Jahre, ist bereits mit Astrazeneca geimpft. "Es ist eine Pandemie, die alle betrifft und die Solidarität von allen fordert", sagt der Ökonom.
Gesundheitsminister Jens Spahn sagte deshalb am Montag zu Impfungen mit Johnson & Johnson: "Es ist sinnvoll, auch den unter 60-Jährigen dieses Angebot zu machen." Er erwarte nicht, dass die Stiko-Empfehlung nun große Auswirkungen auf die Impfkampagne haben wird.
Über 35 Millionen Dosen der in Deutschland zugelassenen Impfstoffe wurden bereits verabreicht. Etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung hat die erste Spritze erhalten, etwa neun Prozent sind vollständig geimpft.
- Eigene Recherche
- Nachrichtenagentur dpa
- ZI: Simulation
- Twitter: Sebastian Dullien
- RKI: Impfdashboard