Interesse am vermissten Tauchboot Fünf gegen 500
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Die Welt ist besorgt, weil fünf Menschen in einem provisorischen Tauchboot havariert sind. Dabei wird die wahre Tragödie auf den Meeren vergessen. Was sagt das über uns?
Seit Montag hängt gefühlt die ganze Welt vor den Bildschirmen, um die Suche nach dem Tauchboot "Titan" zu verfolgen. In dem experimentellen Unterwassergefährt wollten fünf Menschen das Wrack der "Titanic" besichtigen: für einen Preis von 250.000 US-Dollar pro Kopf.
Die internationalen Medien überschlagen sich vor Aufregung bei der Suche nach zwei Milliardären, den Sohn des einen Superreichen, einen "Titanic"-Experten und den CEO des Unternehmens, das die Touristen-Trips zum gesunkenen Ozeanriesen anbietet.
Ja, natürlich ist diese Geschichte tragisch. Selbstverständlich interessiert die Erzählung von den tollkühnen Abenteurern, die in einem selbstgebauten Tauchboot in die Tiefen der Weltmeere vordringen und ein altes Wrack besichtigen wollen. Darüber kann man auch berichten.
Nur: Was sagt das immense Interesse an fünf vermissten Menschen im Atlantik eigentlich über die Welt aus, wenn nur eine Woche zuvor das Leben von mindestens 500 vermissten Menschen im Mittelmeer im Vergleich dazu wie eine Randnotiz daherkam? Sehr viel.
Hohes Interesse an schwerreichen Leichtsinnigen
Wie viele Menschen haben mitbekommen, dass in der vergangenen Woche Hunderte bei einem Bootsunglück vor der Küste Griechenlands ertrunken sind? Wie groß war das Interesse an dem vermutlich schwersten Bootsunglück der vergangenen Jahre?
Bei vielen Menschen war es eher gering. Sie haben es erfolgreich verdrängt, während sie bei der Suche nach dem Tauchboot auf dem Weg zur "Titanic" mitfiebern.
Denn bei den Insassen dieses anderen Bootes handelte es sich nicht um schwerreiche Leichtsinnige, die nun zu "Abenteurern" hochstilisiert werden – sondern es starben Geflüchtete. Sie konnten keine 250.000 Dollar für eine Fahrt zur "Titanic" ausgeben, sondern mussten ihre Ersparnisse von wenigen Tausend Euro für die Fahrt in einem unsicheren Boot hergeben, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Mindestens 100 Kinder sollen unter den Toten sein.
Warum aber ist die Suche nach dem vermissten Tauchboot "Titan" so interessant für Medien und ihre Konsumenten?
Kein Aufwand für Geflüchtete in Seenot
Natürlich besitzt die "Titanic" eine besondere Faszination. Ihr Untergang ist in die Weltgeschichte eingegangen, ist vielfach beschrieben und verfilmt worden. Und natürlich interessiert es, wenn Menschen kein Risiko scheuen, dem berühmtesten Schiffswrack der Welt die letzten Geheimnisse zu entlocken.
Aber seien wir ehrlich: Spielt nicht auch eine Rolle, dass diese Menschen so viel Geld für den Besuch einer exklusiven Sehenswürdigkeit ausgeben können, wie manch anderer für sein Haus ausgibt? Also: dass sie reich sind?
All das brachten die im Mittelmeer verschollenen Geflüchteten in ihrem rostigen Fischkutter nicht mit. Vielmehr haben viele von uns sich doch längst daran gewöhnt, dass regelmäßig Menschen auf dem Weg nach Europa sterben. Oder wie lässt sich sonst erklären, dass niemand einen ähnlichen Aufwand betrieb, um 500 in einem Schiff eingesperrte Geflüchtete zu finden? Alles zu versuchen, um sie zu retten?
Für tote Geflüchtete muss niemand Verantwortung übernehmen
Geflüchtete sind Menschen, deren Leben für viele keine Rolle spielt – mancher mag sich vielleicht sogar wünschen, dass sie besser sterben, statt ihr Ziel Europa zu erreichen. Denn dann muss man sie nicht verteilen, sich nicht um ihre Unterbringung und ihre Ausbildung kümmern. Dann muss niemand Verantwortung übernehmen.
Auch deshalb bleibt die Tragödie auf dem Mittelmeer medial uninteressanter. Das sagt viel über Medienschaffende und ihre Konsumenten aus. Vielleicht müssen die Grundlagen der Empathie neu erlernt werden. Damit nicht nur das Schicksal reicher Menschen in experimentellen Tauchbooten interessiert, sondern endlich auch wieder der Tod und das Leben Geflüchteter auf dem Mittelmeer.
- Eigene Beobachtungen