Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Die Bruchlinien der Ampel Auch das noch
Die Ampel aus SPD, Grünen und FDP hatte bislang Bruchlinien entlang der Parteigrenzen. Jetzt brechen Konflikte auch noch innerhalb der Koalitionspartner auf. Die Frage ist: Kann sich das Land dieses brüchige Gebilde wirklich noch ein Jahr leisten?
Neulich hatte ich einen bösen Backenzahn. Er hat fürchterlich geknackt, als ich auf einen Olivenkern gebissen habe, der dort nicht hätte sein dürfen. "Das war's", dachte ich sofort. Vor einigen Jahren hatte mir meine Zahnärztin eröffnet, dass ich diesen Zahn zerbissen habe. Ein Spalt ging bis in die Wurzel. Sie hat ihn kunstvoll überkront mit einer Art Verschalung. Der Olivenkern, da war ich mir sicher, würde ihm nun den Rest gegeben haben. Stattdessen eröffnete mir meine wirklich großartige, mütterlich fürsorgliche Zahnärztin, dieses Mal sei er horizontal gebrochen, samt Krone. Sprach's und holte den halben Zahn aus meinem Mund. Seither habe ich eine Baustelle in der Backentasche. Mit offenem Ausgang.
So wie mit meinem Zahn verhält es sich auch mit unserer amtierenden Bundesregierung. Bisher war sie nur der Länge nach gebrochen. Immer exakt entlang der drei Parteilinien. So richtig einhellig zu dritt haben sie wenig hinbekommen. Es war schon eine Leistung, wenn sich zwei gegen einen stellten. Die SPD neigte sich in diesen Fällen meistens den Grünen, manchmal den Liberalen zu. Aber die beiden Längsrisse waren immer da. Zuletzt war es sogar so, dass sie alle drei nicht mehr von dem überzeugt waren, was sie eben noch gemeinsam beschlossen hatten. So geschehen bei der erlesen hirnrissigen Idee, Langzeitarbeitslosen einen Tausender hinterherzuwerfen, wenn sie sich zu einem Jahr Arbeit bequemen.
So weit der traurige Dauerzustand der längs zerbrochenen Ampel. Jetzt fängt sie aber auch noch an, quer zu zerbrechen, innerhalb ihrer eigenen Bruchstücke. Angefangen hat das bei den Grünen. Die haben in kurzer Zeit nicht nur ihre beiden Parteichefs verloren, sondern auch noch die gesamte Spitze ihrer Jugendorganisation. Weil die den neuen harten Kurs in der Migration nicht mehr mitgehen will.
Zur Person
Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online erscheint jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!".
Ebenso ergeht es kurz darauf der SPD beim gleichen Thema. In einem offenen Brief stellen sich viele Genossen gegen ihren selbsterklärten Abschiebekanzler. Und ihre Jugendorganisation, die Jusos, stimmt ein in das Lied des Widerstands. Nun sind die Jusos eben die Jusos, eine ganz eigene Welt, wie die Überschrift eines geschätzten Kollegen, früher bei der "Zeit", heute bei der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" es einmal pointiert zusammenfasste: "Auf dem Planeten Juso", schrieb Jochen Buchsteiner unvergessen über seinen Bericht von einem Juso-Kongress, durch den er sich mit offenem Mund staunte. Aber dennoch kündet das alles von innerparteilicher Unbill.
Bei den Liberalen markiert ein Bundestagsabgeordneter und Fraktionsvize namens Johannes Vogel die horizontale Bruchlinie. Er findet, dass in der ampelseitig beschlossenen Rentenreform zu wenig Aktienanteil drin sei, eine Idee, die von ihm stammt. So ganz klar ist noch nicht, ob es Vogel dabei um die Sache geht oder ob er seinem Parteichef Christian Lindner an die Stuhlbeine will. Welche Aktien er gewissermaßen selbst in dieser Sache hat. Es gibt aber nicht nur bei Rüstungsgütern sogenannten Dual Use, was so viel heißt wie, dass ein und dasselbe Ding zweierlei Nutzen haben kann.
Eine Koalition beendet man, ohne darüber vorher zu reden
Um das Bild abzurunden, noch ein Wort zu eben jenem Parteichef Christian Lindner. Der raunt inzwischen einmal die Woche bedeutungsschwer und dräuend davon, dass es ja auch mal vorbei sein könne mit diesem Bündnis. Dass die FDP ihr Glück außerhalb dieses Dreierbündnisses finden könnte. Lieber gar nicht mehr regieren, als unter chronischen Schmerzen regieren. Eine seltsame Vorgehensweise. Es ist doch wie im normalen Leben auch: Wenn man damit liebäugelt, seinen Arbeitgeber zu verlassen, dann redet man da nicht einmal die Woche in einer Sitzung drüber. Man macht es, oder man lässt es. Und hält ansonsten den Mund. Alles andere wird ganz schnell lächerlich.
Man gewöhnt sich mit der Zeit ja an alles, sogar an eine dysfunktionale Ampel. Und es wird auch mit ihr jeden Morgen hell und abends wieder dunkel. Aber alle Gewöhnung an den ganz normalen Wahnsinn sollte einen nicht übersehen lassen, dass diese Regierung die fleischgewordene Erklärung dafür ist, dass Deutschland in ein zweites Jahr der Rezession geht, während um uns herum die Industrienationen nach Corona wieder boomen. Sowohl die Unternehmen als auch die Konsumenten haben Stacheldraht in den Hosentaschen. Niemand kauft oder investiert. Alles steckt in Agonie, steht still. Als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt. Aber kann diese Pause-Taste jetzt wirklich noch ein Jahr gedrückt bleiben?
Was tot ist, tut nicht mehr weh
Bei meinem Zahn ist es so: Nach einer Wurzelbehandlung tut er nicht mehr weh. Er ist jetzt eine tote Ruine, die meine Ärztin aber noch für ein paar Jährchen dort stehen lassen möchte. Zahnerhalt geht vor Zahnersatz, sagt sie. Es kann aber jederzeit sein, dass die Ruine doch plötzlich raus muss. Jetzt sofort. Parallelen zur amtierenden Regierung überlasse ich Ihrer Fantasie.
- Eigene Überlegungen und Zahnarztbesuche