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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rechtsruck nach Europawahl "Frage nach der Brandmauer beantwortet sich von selbst"
In verschiedenen Ländern Europas gehen rechtspopulistische bis rechtsextreme Parteien als Wahlgewinner hervor. Was bedeutet das generell für die Arbeit der EU und das politische Klima?
Tino Chrupalla war zufrieden. "Wir haben ein super Ergebnis erzielt", sagte der Co-Parteivorsitzende der AfD t-online, nachdem seine Partei am Wahlsonntag das Ergebnis der ersten Prognose zur Europawahl bejubelt hat. "Den zweiten Platz, den geben wir heute nicht mehr her."
Tatsächlich ging es in anderen Ländern für Parteien weit rechts der Mitte noch höher hinaus: In Italien bejubelten die postfaschistischen Fratelli d'Italia ihren Wahlsieg genauso wie die rechtspopulistische FPÖ in Österreich, die ungarische Fidesz von Viktor Orbán oder der Rassemblement Nationale von Marine Le Pen in Frankreich. Die Ergebnisse sorgten noch am Abend dafür, dass Präsident Emmanuel Macron die Nationalversammlung auflöste und Neuwahlen für das französische Parlament ansetzen ließ.
Was bedeuten die starken Zahlen der rechten Parteien für die europäische Politik? t-online fragt bei dem Politikwissenschaftler und EU-Kenner Manuel Müller nach.
t-online: Herr Müller, die AfD hat bei der Europawahl zulegen können, in anderen Ländern sind rechtspopulistische bis rechtsextreme Kräfte zum Teil stärkste Kraft geworden. Ist das der Rechtsruck, den viele erwartet hatten?
Manuel Müller: Das hängt davon ab, welchen Maßstab man nimmt. Gemessen am bisherigen Parlament haben die Rechten deutlich dazugewonnen. So stark waren sie noch nie in den vergangenen 35 Jahren. Wenn man es aber an den letzten Umfragen misst, ist der Aufstieg dieser Rechten tatsächlich nicht ganz so stark ausgefallen wie erwartet. In mehreren Ländern sind sie hinter den Erwartungen zurückgeblieben.
Also kein Grund zur Beunruhigung?
Doch, auf jeden Fall. Um die europäische Gesellschaft sollte man sich schon Sorgen machen: In immer mehr Ländern sind extreme Parteien erfolgreich. Es wird allerdings auch in Zukunft im Europäischen Parlament eine Mehrheit in der Mitte geben. Interessant wird, ob diese Mehrheit jetzt zusammenkommt.
Zur Person
Manuel Müller ist Senior Research Fellow im Forschungsprogramm der Europäischen Union am Finnish Institute of International Affairs in Helsinki. Seine Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf die institutionelle Reform der EU und die supranationale Demokratie. Zuvor arbeitete er unter anderem für das Institut für Europäische Politik in Berlin sowie der Universität Duisburg-Essen.
Erklären Sie das bitte.
Die EVP hat sich eine Öffnung nach rechts als Option offengelassen. Mit einigen Rechts-außen-Parteien will sie offenbar zusammenarbeiten. Dann könnte sie bei Mehrheitsentscheidungen auch mal auf die Grünen und den linken Flügel der Sozialdemokraten verzichten. Die Grünen wiederum wollen gemeinsam mit den Sozialdemokraten und den Liberalen, dass die EVP eine solche Zusammenarbeit ausschließt.
Was würden Sie Ursula von der Leyen und der EVP raten?
Einfacher ist es für sie, stabile Mehrheiten in der Mitte zu suchen. Innerhalb der EVP ist das allerdings unpopulär. Denn sie muss dann immer Zugeständnisse an Parteien machen, die links von ihr stehen. Wenn sie bei der Mehrheitsbildung außer Mitte-links-Parteien auch Rechts-außen-Parteien einbezieht, ist die wahrscheinliche Landezone für Kompromisse hingegen viel näher an den Positionen der EVP selbst. Aber das ist sehr riskant.
Warum?
Zum einen könnte dieser Kurs die anderen Parteien der Mitte verärgern, was es erschwert, dort Kompromisse zu finden. Zum anderen werden dadurch Rechts-außen-Parteien normalisiert. Das sehen wir schon jetzt: Giorgia Melonis Partei wird mittlerweile schon als pro-europäisch bezeichnet. Dabei hat sie gestern noch gesagt, dass sie sich für nichts außer Italien interessiert. Für die EVP und Frau von der Leyen heißt das: Sie muss sich die rechten Parteien schönreden, um diese Öffnung zu rechtfertigen.
Wie wird sich die Politik der EU also ändern?
Es wird einen Rechtsruck geben. Der liegt aber nur zum Teil an dem Aufstieg der Rechts-außen-Parteien. Wichtiger ist, dass es keine Mehrheit links der Mitte mehr gibt. Bisher gab es im EU-Parlament außer der Mitte-Koalition auch eine alternative Mehrheit aus Sozialdemokraten, Grünen, Liberalen und Linken. Diese Mitte-links-Allianz war vor allem beim Green Deal oder in der Sozialpolitik wichtig. Das ist jetzt vorbei. Die EVP hat jetzt faktisch ein Vetorecht. Ohne sie sind keine Mehrheiten mehr möglich.
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In der Vergangenheit hieß es oft, dass eine hohe Wahlbeteiligung die Ränder Stimmen kostet. In Deutschland haben seit der Wiedervereinigung noch nie so viele Menschen bei einer Europawahl abgestimmt. Was bedeutet das?
Das ist eine neue Entwicklung. Lange Zeit wurde über Politikverdrossenheit gesprochen: Unzufriedene sind zu Hause geblieben oder haben punktuell für extreme Parteien gestimmt. Mittlerweile hat diese Gruppe Parteien gefunden, die sie immer wieder wählt, selbst wenn sie sich immer weiter radikalisieren. Für viele AfD-Wähler ist das nicht mehr eine Protestwahl.
Die Wahl der extremen Ränder ist also nicht mehr ein Ausdruck von Verdrossenheit?
Genau. Positionen, die lange in der Gesellschaft nicht akzeptabel waren, gelten mittlerweile als normal. Extreme Meinungen werden heute einfacher geäußert. Die Parteien der Mitte haben ihren Anteil daran, in dem sie die Positionen der Ränder aufgreifen und dadurch normalisieren. Sie tragen mittlerweile Dinge mit, die vor einigen Jahren noch undenkbar waren.
Innerhalb der rechten Parteien scheint es zwei Strömungen zu geben: Marine Le Pen und Giorgia Meloni suchen den Anschluss an die Mitte. Die FPÖ in Österreich scheint sich in die andere Richtung zu orientieren. Gemein ist allen drei, dass sie die Wahl in ihren Ländern gewonnen haben. Wie erklären Sie sich das?
Die Parteien sind mit unterschiedlichen Strategien erfolgreich. Das ist auch abhängig davon, ob sie ein Bündnis mit gemäßigteren Parteien brauchen, um in eine Regierung zu kommen. Die Orientierung zur Mitte kann auch dafür sorgen, dass moderate Kräfte sich zunehmend auflösen. Meloni ist das in Italien gelungen. Die AfD und FPÖ glauben dagegen, mit ihrer Radikalisierung mehr Wähler überzeugen zu können. Eine Beteiligung an der Bundesregierung bleibt dadurch unwahrscheinlich. In einzelnen Bundesländern könnte sich das aber bald ändern, etwa nach den Landtagswahlen im Herbst in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.
Gab es in dieser Wahl auch Länder, in denen die Parteien der Mitte die extremen Kräfte weit hinter sich lassen konnten?
In einigen Länder haben die rechten Parteien schlechter abgeschnitten als erwartet. Das trifft etwa auf Rumänien, Portugal und die Niederlande zu. Geografisch gibt es da kein Muster. Dort wurden diese Parteien überschätzt, sie haben aber trotzdem in den meisten Ländern dazugewonnen. Verluste gab es so gut wie nicht. Eine Ausnahme ist Finnland: Dort hat die radikale Rechte einen ihrer zwei Sitze verloren.
Für die Mitte zeichnet sich also aus dieser Wahl keine Strategie ab, wie man diese Parteien stellen kann?
Ein systematisches Muster gibt es tatsächlich nicht. Wir sehen mittlerweile, dass sich in Europa viele EVP-Mitgliedsparteien nach rechts geöffnet haben und Rechts-außen-Parteien in Landesregierungen vertreten sind. Dadurch beantwortet sich für die EU auch die Frage nach der Brandmauer zunehmend von selbst.
Ach ja?
Im EU-Ministerrat gab es sie ohnehin noch nie. Im Europäischen Parlament ist das bisher noch anders. Aber da der Ministerrat in allen Fragen mitentscheidet, lassen sich rechtsextreme Parteien nicht mehr aus der europäischen Politik heraushalten.
- Interview mit Manuel Müller