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Grünen-Chefin Baerbock: "Halte nichts davon, Menschen für dumm zu verkaufen"


Grünen-Vorsitzende
Frau Baerbock, trauen Sie sich die Kanzlerschaft zu?

  • Johannes Bebermeier
InterviewVon Johannes Bebermeier, Sven Böll

20.11.2020Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Grünen-Chefin Annalena Baerbock: "Sind wir am Ziel? Nein. Es sind noch richtig dicke Bretter zu bohren."Vergrößern des Bildes
Grünen-Chefin Annalena Baerbock: "Sind wir am Ziel? Nein. Es sind noch richtig dicke Bretter zu bohren." (Quelle: photothek/imago-images-bilder)

Die Grünen geben sich ein neues Grundsatzprogramm. Co-Chefin Annalena Baerbock spricht über den Wunsch der Partei nach radikalen Änderungen – und die Sorge vor unrealistischen Erwartungen.

t-online: Frau Baerbock, am Wochenende treffen sich die Grünen zu einem digitalen Parteitag. Wird es ohne Zwischenrufe und strickende Delegierte nicht furchtbar langweilig?

Annalena Baerbock: Nein, ich war noch nie so aufgeregt vor einem Parteitag.

Wie bitte?

Naja, formal ist zwar alles wie immer, weil es sich um die gleichen Delegierten und Parteivorsitzenden handelt. Aber digital ist es ziemlich anders. Ich sehe zum Beispiel nicht, ob jemand strickend auf dem Sofa sitzt, weil er oder sie sich bei meiner Rede langweilt.

Wenn es wieder Präsenzparteitage gibt: Existieren dann überhaupt noch Grüne, die gegen die Führung aufbegehren und Farbbeutel werfen, wenn ihnen eine Meinung nicht passt?

Um Emotionen und Stimmung mache ich mir bei uns keine Sorgen. Unser tolles Team hat bestimmt ein digitales Tool gebaut, mit dem man irgendetwas werfen kann.

Digitale Farbbeutel?

Farbbeutel-Emojis. Wär doch was.

Auf dem letzten Parteitag wurde das Streitthema Globuli in eine Kommission abgeräumt, die dann wiederum von der Parteispitze abgeräumt wurde. Haben die Grünen das produktive Streiten nicht verlernt?

Ein Streit über Globuli ist definitiv nicht produktiv.

Dafür haben Sie auf das Thema aber ganz schön viel Zeit verwendet.

Nee. Und die Auseinandersetzung über Gesundheitsfragen auf Globuli zu verkürzen, ist Quatsch …

... das haben wir ja auch nicht gemacht.

Na dann. Jetzt stehen aber die Debatten über unser Grundsatzprogramm an. Wir legen damit ein Fundament für die Zukunft. Wie wir in unserem Land zusammenleben wollen. Auf welchen Werten wir stehen. Wie wir Wachstum anders gestalten, wie wir unsere Marktwirtschaft zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft umbauen. Nicht ein "Immer mehr" ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Kosten darf zählen, sondern das Wohlergehen aller Menschen muss im Mittelpunkt unserer Wirtschaftspolitik stehen. Vorsorge, gerade bei Gesundheit, sollte eine viel größere Rolle spielen, angefangen bei der Krankenhausfinanzierung. Das sind die wirklich großen Fragen.

Trotzdem nochmal zurück zu Globuli: Im Entwurf des Grundsatzprogramms heißt es, die Wirksamkeit von Medizin müsse "wissenschaftlich erwiesen" sein. Machen das die Fans alternativer Medizin mit?

Ich bin ganz optimistisch, aber im Zweifel klären wir das.

Was uns auffällt: Die Grünen sind vorsichtiger geworden, wollen möglichst nicht mehr anecken.

Woran machen Sie das denn fest?

Im neuen Grundsatzprogramm soll stehen: "Die Besteuerung von Kapitaleinkommen muss mindestens dem Maß der Besteuerung der Erwerbstätigkeit entsprechen." Klingt nach: Wir schaffen die Abgeltungsteuer ab – und das war's.

Nee keineswegs. Aber da wird es wieder komplex.

Kein Problem.

Wir haben bisher ein System, in dem Erwerbstätige nicht nur Steuern zahlen, sondern auch die Sozialversicherung. Bei den meisten Kapitalerträgen ist das anders. Wir wollen, dass auf alle Kapitaleinkünfte künftig der persönliche Satz bei der Einkommensteuer fällig wird und auch Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung.

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Früher traten die Grünen auch für eine Vermögensteuer ein. Gilt das noch?

Wir wollen ein gerechteres Steuersystem, ohne Frage. Unser Grundsatz ist, dass stärkere Schultern mehr tragen als schwache.

Das sagt die FDP auch.

Naja, wir halten es für erforderlich, dass das Aufkommen der Steuern aus Kapitaleinkommen, großen Vermögen und Erbschaften wieder erhöht wird, und zugleich, dass der Vermögensaufbau von einkommensschwachen Gruppen gefördert wird. Dass das alles die FDP will, wäre mir neu. Aber zu lernen ist immer gut.

Die Grünen werden in diesem Jahr 40 Jahre alt. Wie hat sich die Partei verändert?

In den Gründungsjahren war unsere Rolle, wachzurütteln – und zwar laut. Viele Menschen, gesellschaftliche Gruppen, Themen wurden nicht gesehen: ob Frauen, Frieden oder Umwelt. Inzwischen wollen wir die Breite der Bevölkerung repräsentieren und das Land aus führender Rolle von der Innen- über die Wirtschafts- und Klimapolitik bis zur Außenpolitik gestalten.

Es ist ja nicht so, als hätten die Grünen nichts zu sagen: Sie sind an 11 von 16 Landesregierungen beteiligt. Was wird eigentlich besser, wenn Ihre Partei regiert?

Vieles, aber nicht sofort alles.

Das sagt die Chefin?

Aus voller Überzeugung. Ich halte nichts davon, die Menschen für dumm zu verkaufen und ihnen oder sich selbst was vorzumachen. In Deutschland gibt es zum Glück das Verhältniswahlrecht. Das Mehrheitswahlrecht mag zwar für eindeutige Mehrheiten sorgen, aber es vertieft die Spaltung der Gesellschaft. Siehe USA. Die Stärke unseres Systems besteht darin, dass unterschiedliche Parteien zusammenkommen und ja, auch Kompromisse schließen müssen.

Noch mal: Was wird besser, wenn Grüne regieren?

Die Realität. Baden-Württemberg, wo wir stärkste Kraft sind, hat zum Beispiel – anders als viele andere Länder – ein flächendeckendes Netz an E-Ladesäulen. Eine Pflicht zu Solaranlagen etwa auf allen neuen Einkaufsmärkten und Industriehallen. Finde ich deshalb alles nur perfekt? Nein. Weil auch ein grüner Ministerpräsident Kompromisse mit dem Juniorpartner CDU machen muss.

Winfried Kretschmann regiert seit fast 10 Jahren. Ladesäulen und Solaranlagen sind sicher wichtig, aber gibt es nicht noch Grundsätzlicheres?

Klar. Winfried Kretschmann hat gezeigt, dass Politik auch zuhören kann. Führen für Grüne heißt nicht, den Menschen von oben herab zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben.

Grüne Realpolitik also.

Wenn Sie das so nennen wollen: meinetwegen. Für mich ist das einfach Grün.

Zählt dazu auch, dass Kretschmann mit anderen Ministerpräsidenten für Prämien für Verbrennerautos kämpft?

Da sehen Sie, dass die Grünen sehr wohl auch noch leidenschaftlich streiten und sogar die Parteichefin und ein Ministerpräsident unterschiedlicher Meinung sein können. Wie schnell und mit welchen Vorgaben man am besten zu emissionsfreien Antrieben kommt, die auch in Deutschland gebaut werden: Ja, darüber debattieren wir kontrovers. Unser Ziel eint uns: Klimaneutralität im Verkehr.

Woran merkt der Berliner Radfahrer, der bei der Fahrt zur Arbeit Angst um sein Leben haben muss, dass die Verkehrssenatorin seit Jahren von den Grünen gestellt wird?

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An den zig neuen Radwegen, auch immer mehr geschützten. Pop-up oder traditionell.

Das ist alles?

Mehr als 100 Kilometer neue Radwege wurden gebaut. Und es gibt Spielstraßen für Kinder, weniger zugeparkte Straßen und mehr Platz für Cafés, Milliardeninvestitionen in neue S-und U-Bahn-Wagen. Aber auch hier stellt sich die Frage: Sind wir am Ziel? Nein. Es sind noch richtig dicke Bretter zu bohren. Weil entscheidende Gesetze im Bund gemacht werden. Weil unsere Koalitionspartner CDU oder SPD in den Ländern oft noch immer vor einer echten Verkehrswende zurückschrecken.

Ein anderes Beispiel für den Konflikt zwischen Anspruch und Realpolitik ist der umstrittene Bau der A49 in Hessen. Warum ist es leichter, das Pariser Klimaabkommen zu brechen als den Bundesverkehrswegeplan?

Weil das Fernstraßenausbaugesetz im Bundestag mit den Stimmen der großen Koalition eine parlamentarische Mehrheit hatte. Wir und das Pariser Klimaabkommen wurden überstimmt. Logischerweise finden wir das nicht gut, um es höflich zu sagen. Gerade deswegen kämpfen wir ja so dafür, dass es künftig andere Mehrheiten gibt.

Sie selbst haben den Baustopp der A49 gefordert. Zugleich ist die hessische Polizei gegen Demonstranten vorgegangen und der dortige grüne Minister Tarek Al-Wazir hat sinngemäß gesagt, die Autobahn müsse gebaut werden, weil Gesetz eben Gesetz sei. Wecken Sie nicht Erwartungen, die Sie gar nicht erfüllen können?

Nein, im Gegenteil. Zu einer ehrlichen Politik gehört es, zu sagen, wo man sich nicht durchsetzen kann – das tut uns richtig weh, aber das ist Teil von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Wir können uns nicht aussuchen, welche Gesetze wir umsetzen. Wo kämen wir denn da hin?

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Klimaaktivisten wie Luisa Neubauer sehen ihre Bewegung inzwischen im Konflikt mit den Grünen. Sie werfen ihnen vor, von Status-quo-Hinterfragern zu Status-quo-Bewahrern zu werden. Können Sie das nachvollziehen?

Nein. Meine ganze Politik zielt darauf ab, den fossilen Status quo zu verändern. Gerade weil es mich jeden Tag extrem umtreibt, dass angesichts der Dramatik der Klimakrise nicht alles schneller geht. Als das Pariser Klimaabkommen vor fünf Jahren verabschiedet wurde, war ich mit meiner damals sechs Monate alten Tochter auf der Konferenz. Ich habe ihr versprochen, alles dafür zu tun, dass wir die Klimakrise in den Griff bekommen. Heute ist sie fünf. Ich sehe täglich, wie uns die Zeit durch die Finger rinnt. Um beim Klimaschutz endlich voll loszulegen, braucht es in einer Demokratie eben auch Klimaschutz-Mehrheiten im Parlament. Daher kämpfe ich so für starke Grüne im nächsten Bundestag.

In ihrem Grundsatzprogramm bezeichnen Sie das Pariser Klimaabkommen als "Leitlinie". Klingt nicht ausgesprochen ambitioniert.

Doch. Wir wollen die komplette Industrie, den Verkehr, die Landwirtschaft, die Energie- und Wärmeversorgung – kurz: alles – in deutlich weniger als 30 Jahren komplett klimaneutral machen. Das ist die Aufgabe unserer Generation. Alleine werden wir das Klima nicht retten können. Wir müssen Bündnisse schließen. Deshalb gehe ich in Stahl- und Aluminiumwerke, spreche mit der Klimabewegung. Damit es gelingt.

Die Grünen stellen zwar nirgendwo den Kultusminister. Trotzdem die Frage: Warum kommt die Digitalisierung der Schulen trotz Corona-Krise nicht voran?

Zu meinem Entsetzen fallen nicht nur die Digitalisierung der Schulen, sondern Bildung, Kinder und Familien in der Pandemie hinten runter. Das muss man so klar und nüchtern feststellen. Das muss sich radikal ändern.

Wir wiederholen uns, aber: Sie regieren in vielen Ländern.

Ja, besetzen aber leider kein einziges Bildungsressort.

Der Wille der Bundesregierung, die Schulen offen zu halten, existiert also gar nicht?

Lippenbekenntnisse allein reichen nicht. Man muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass alle Kinder lernen können. Große Räume, Filteranlagen. Und vor allem muss man zwischen Grundschulen und weiterführenden Schulen unterscheiden. Kleine Kinder können nicht vor dem Laptop alleine zu Hause Schule spielen. Kinder brauchen Kinder ebenso wie ihre Lehrerin. Der Vorschlag aus dem Kanzleramt Anfang der Woche, pauschal Präsenz- und Digitalunterricht im Wechsel einzuführen, hat all das nicht erfüllt.

Im nächsten Jahr ist Bundestagswahl. Gibt es Positionen, die für Sie in einer Koalition unverhandelbar sind?

Verhandeln muss man über alles. Ich will in jedem Bereich Dinge besser machen. Und zu regieren ergibt keinen Sinn, wenn ich nichts umsetzen kann. Um mal zwei Themenfelder rauszupicken: Das Pariser Klimaabkommen zu erfüllen und eine Sozial- und Bildungspolitik, die wirklich jedes Kind erreicht, sind für mich zwingende Grundlagen für künftige Koalitionen.

Ihr Co-Chef Robert Habeck traut sich die Kanzlerschaft zu. Sie sich auch?

Ich traue uns Grünen die Kanzlerschaft zu.

Und sich selbst?

Ich gehöre zum Grünen-Spitzenduo, deshalb ja: Robert und mir. Mir und ihm.

Wenn Herr Habeck Finanzminister werden will, was wollen Sie machen, falls das mit dem Kanzleramt nichts wird?

Da wissen Sie mehr als Robert Habeck und ich. Wir kämpfen um die Führung in diesem Land. Das schafft man nicht, indem man Posten verteilt, die noch nicht gewonnen sind. Ich komme aus dem Sport. Sich schon vorher über Medaillen zu freuen, führt definitiv zum vorzeitigen Ausscheiden.

Haben Sie das Herrn Habeck auch so deutlich gesagt?

Warum? Dazu gibt es keine Veranlassung. Wir sind eigentlich so gut wie immer einer Meinung, außer beim Sport. Er steht auf Handball und ich auf Fußball.

Frau Baerbock, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Video-Interview mit Annalena Baerbock in dieser Woche
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