Reaktionen auf Koalitionsvertrag Scharfe Kritik: "Diese Koalition hat Geld wie Heu, aber Ideen wie Stroh"

Die Koalition steht. Schon kommt erste Kritik. Grüne und Linke bemängeln Ideenlosigkeit. SPD-Generalsekretär Matthias Miersch wirbt vor dem Mitgliederentscheid um die Zustimmung der eigenen Basis.
Siebzig Minuten dauerte die Vorstellung des neuen Koalitionsvertrags am Mittwoch in Berlin. Danach war die Opposition dran. Grünen-Chefin Franziska Brantner bilanzierte mit Blick auf das 500-Milliarden-Sondervermögen der neuen Regierung: "Diese Koalition hat Geld wie Heu, aber Ideen wie Stroh."
Sie beklagte außerdem, dass die künftige Regierung mit ihren Plänen die junge Generation im Stich lasse und nannte die Themenbereiche Renten, Bildung und Innovation. "Nicht ist konkret geregelt, alles wird vertagt", fügte sie mit Blick auf eine Vielzahl von geplanten Expertenkommissionen zu verschiedenen Themen hinzu.
Auch Grüne-Jugend-Chef Jakob Blasel kritisierte Union und SPD. "Diese Koalition attackiert die Grundpfeiler unserer Gesellschaft", sagte Blasel t-online. "Statt sozialer Politik für alle gibt es nur Wahlgeschenke für einige wenige."
Union und SPD hatten am Mittwoch ihren Koalitionsvertrag vorgelegt. Die Übereinkunft sieht unter anderem Verschärfungen beim Bürgergeld vor. Blasel kritisierte den Kurs der neuen Regierung und sagte: "Union und SPD machen keinen Halt vor der Entrechtung Geflüchteter, Beschäftigter oder Bürgergeldempfängern. Sie alle werden die Leidtragenden der Pläne der kleinen Koalition sein."
Blasel nahm zugleich die eigene Partei in die Pflicht. Nun seien die Grünen in der Opposition gefragt, sagte er und mahnte: "Niemand braucht eine SPD, die den 8-Stunden-Tag abschafft, aber alle Beschäftigten brauchen eine Grüne Partei, die sich für ihre Rechte, Löhne und Lebensgrundlage einsetzt."
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Auch vermisste der Grünen-Politiker echtes Engagement beim Klimaschutz. "Echte Totalverweigerer in Deutschland findet man in Deutschland nur am neuen Kabinettstisch. Nämlich immer dann, wenn es um Klimaschutz geht", so Blasel.
Der Grünen Europa-Abgeordnete Michael Bloss bemängelte ebenfalls die fehlenden Ambitionen beim Klimaschutz und erklärte auf der Plattform X: "Lange nicht mehr so viele leere Floskeln am Stück gehört wie bei Merz' Konferenz zum Abschluss der Koalitionsverhandlungen."
Auch die Linke vermochte keinen Aufbruch zu erkennen. Der Koalitionsvertrag ignoriere Probleme wie hohe Mieten, hohe Preise, den bröckelnden Zusammenhalt der Gesellschaft und die Zerstörung des Planeten, sagte Linken-Chefin Ines Schwerdtner. "Komplett mutlos, fantasielos und ohne sozialen Kompass präsentiert sich hier diese Koalition der Ignoranz und der Hoffnungslosigkeit." Die Politik werde den Weg für rechte Parteien ebnen.
Linken-Fraktionschefin Heidi Reichinnek ergänzte, die Sicherung des Rentenniveaus auf 48 Prozent reiche nicht. "Das ist nichts anderes als eine Fortschreibung von Altersarmut", meinte sie. "Anstatt dieses Elend zu zementieren, muss das Rentenniveau endlich wieder auf 53 Prozent erhöht werden." Auch die Pläne zur Migrationspolitik kritisierte sie.
Weidel spricht von "Kapitulationsurkunde"
AfD-Chefin Alice Weidel hat den vorgelegten Koalitionsvertrag von Union und SPD als "Kapitulationsurkunde" von CDU-Chef Friedrich Merz und von CDU/CSU bezeichnet. Die Union habe kein einziges Wahlversprechen eingehalten und Merz sei schon vor seiner Wahl zum Bundeskanzler auf breiter Front gescheitert, sagte Weidel.
Das Regierungsprogramm gehe die wichtigen Herausforderungen des Landes nicht an.
SPD-Generalsekretär Miersch verteidigt Übereinkunft
SPD-Generalsekretär Matthias Miersch verteidigte die Übereinkunft. Er sagte t-online: "Wir bringen 500 Milliarden Euro auf den Weg für moderne Infrastruktur, senken Energiekosten für Unternehmen, sorgen für Tempo bei Planungen und Fachkräfteeinwanderung – und wir geben klare Impulse für Investitionen 'Made in Germany'. Das ist unsere Antwort auf Trumps wirtschaftspolitische Irrfahrt. Das ist unsere Antwort für Wohlstand, sichere Arbeitsplätze und Aufschwung."
Zugleich betonte Miersch die große Verantwortung, die die neue Regierung übernehme. "Die Erwartungen an diese Koalition sind hoch. Die Menschen erwarten, dass Politik und unser Land wieder funktionieren, dass investiert und entlastet wird, dass unser Land zusammengehalten wird. Genau dafür steht dieser Koalitionsvertrag", so Miersch.
Der SPD-Politiker mahnte mit Blick auf die Umfragewerte der AfD: "Wir geben eine klare Antwort auf Rechtsruck und Unsicherheit: mit Ordnung und Humanität in der Migrationspolitik, mit Investitionen in Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit, mit einem starken Staat, der funktioniert – und der schützt."
Miersch wirbt um Zustimmung bei der SPD-Basis
Die SPD legt die Übereinkunft der eigenen Basis in einem Mitgliederentscheid zur Abstimmung vor. Miersch warb um Zustimmung und sagte: "Jetzt entscheiden unsere Mitglieder. Ich werbe für ein starkes Ja – für eine Koalition, die Verantwortung übernimmt, unser Land modernisiert und zusammenhält."
Miersch betonte vor allem die sozialen Aspekte im neuen Koalitionspapier. "Wir haben im Blick, dass das Leben verdammt teuer geworden ist. Darum sorgt die SPD für stabile Renten, 15 Euro Mindestlohn, bezahlbares Wohnen, eine Einkommensteuerentlastung für die Mitte, mehr Startchancen für Kinder, die Rückkehr der Sprachkitas und den dauerhaften Erhalt des Deutschlandtickets", sagte der SPD-Generalsekretär.
"Bekenntnis zur Automobilwirtschaft als Schlüsselindustrie"
Miersch wies auch Kritik an mangelnden Ambitionen beim Klimaschutz zurück. "Wir machen Ernst beim Klimaschutz und setzen mit voller Kraft auf bezahlbare erneuerbare Energien aus Deutschland. Waghalsige Rückschritte ins teure Atomzeitalter wird es nicht geben. Stattdessen investieren wir gezielt in klimaneutrale Technologien und Infrastruktur, in die Energiewende und einen nachhaltigen Wirtschaftsstandort."
Der SPD-Wirtschaftspolitiker und Mitglied im Bundesvorstand, Sebastian Roloff, lobte insbesondere "die Verabredung, die Energiepreise für alle, aber mittels eines Industriestrompreises insbesondere für die energieintensive Industrie, deutlich zu reduzieren". Auch sei das Papier ein "klares Bekenntnis zur Automobilwirtschaft als Schlüsselindustrie". Durch "Super-Abschreibungen in den nächsten drei Jahren" werde zudem die Wirtschaft in ihrer gesamten Breite deutlich unterstützt, so Roloff.
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) hat den Koalitionsvertrag von Union und SPD als "Vereinbarung der Vernunft in Zeiten weltweit grassierender Unvernunft" gewürdigt. Deutschland könne jetzt an vielen Stellen die notwendigen Veränderungen bekommen, teilte der CDU-Landeschef in Düsseldorf mit.
Vor allem die Vereinbarungen in der Energiepolitik und zum Abbau von Bürokratie könnten sich sehen lassen und machten "Deutschland einfacher", lobte Wüst. Bei den geplanten Investitionen in die Infrastruktur müsse dafür gesorgt werden, dass das Geld unbürokratisch vor Ort ankomme.
Mit der Speicherpflicht für IP-Adressen bekämen die Sicherheitsbehörden endlich ein neues Instrument im Kampf gegen Terrorismus, organisierte Kriminalität und Kindesmissbrauch, betonte der CDU-Politiker außerdem. Er lobte auch Verbindlichkeit beim Thema kommunaler Altschulden. Die Zusage einer hälftigen Beteiligung des Bundes am Entschuldungsprogramm sei ein erster wichtiger Schritt hin zu einer dauerhaften Lösung.
Ökonomen sehen "keinen echten Neustart"
Führende Ökonomen sehen Licht und Schatten im Koalitionsvertrag von Union und SPD. "Bedauerlich ist, dass es diverse neue Ausgaben in den Koalitionsvertrag geschafft haben, die rein konsumtiv ausgerichtet sind", sagte der Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Jens Südekum, der Nachrichtenagentur Reuters. Als Beispiele nannte er die Ausweitung der Mütterrente, die Subventionierung des Agrardiesels oder die Senkung der Mehrwertsteuer in der Gastronomie. Diese Projekte kosteten etwa acht Milliarden Euro im Kernhaushalt.
"Hätte die Koalition hierauf verzichtet, wäre Raum für sofortige Entlastungen bei der Einkommen- und der Unternehmensteuer entstanden, die insgesamt stärkere Beiträge für die Wettbewerbsfähigkeit und das Wachstum in Deutschland hätten liefern können", sagte Südekum. Positiv seien die besseren Abschreibungsregeln, um gezielt Investitionen anzureizen. "Das ist ein wichtiges Signal", sagte der Ökonom.
Die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, begrüßte die rasche Einigung. "Das ist angesichts der weltwirtschaftlichen Entwicklungen richtig und wichtig", sagte sie. Die steuerlichen Entlastungen würden geringer ausfallen als von manchen erhofft. Turboabschreibungen seien sinnvoll, während das Abschaffen des nationalen Lieferkettengesetzes ein Signal für Bürokratieabbau setze. Auch helfe die Einführung der Wochenarbeitszeit bei der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes.
"Was fehlt, ist die dringend erforderliche Rentenreform, um das Rentensystem finanzierbar zu halten", sagte Schnitzer. "Stattdessen wird die absehbare finanzielle Schieflage des Rentensystems durch die Anhebung der Mütterrente und das Festhalten am Rentenniveau zementiert."
- Eigene Recherche
- Nachrichtenagenturen dpa und Reuters