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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Boris Pistorius Ihm droht Ärger
Die Aufgabe, vor der Boris Pistorius steht, ist fast nicht zu stemmen. Denn der neue Minister muss bei der Bundeswehr richtig aufräumen. Und das gefällt vielen nicht.
Am 29. April ist Boris Pistorius 100 Tage im Amt. Das ist typischerweise der Zeitpunkt, an dem die Schonfrist vorbei ist und sich "Neue" in politischen Spitzenämtern einer ersten kritischen Bilanz stellen müssen. Schon jetzt lässt sich sagen: Die Zwischennoten für den neuen Verteidigungsminister fallen gut aus. Aber das heißt noch nicht, dass er das Klassenziel am Ende auch erreichen wird.
Klar, wirklich schlimmer werden konnte es nach Christine Lambrecht nicht mehr. Um das Niveau seiner Vorgängerin zu unterbieten, hätte Pistorius sich mehr als nur anstrengen müssen. Aber der 63-Jährige übernahm Mitte Januar eben nicht irgendein Ressort, sondern das vermutlich komplizierteste, das die Bundesregierung zu bieten hat.
Ministerium gilt als "unregierbar"
Als unregierbar galt die "Hardthöhe", Sitz des Ministeriums zu Bonner Zeiten, schon damals. Und einen besseren Ruf hat der Berliner Bendlerblock auch nicht. "Schlangengrube" ist noch eine der eher putzigeren Beschreibungen für das, was einen Minister dort in der Regel erwartet.
Christine Lambrecht mag in beispielloser Weise durch ihre Amtszeit gestolpert sein, aber als echte Erfolge haben die Beamten und Soldaten Vorgängerinnen und Vorgänger wie Annegret Kramp-Karrenbauer, Ursula von der Leyen, Franz Josef Jung und Rudolf Scharping auch nicht in Erinnerung. Von Karl-Theodor zu Guttenberg ganz zu schweigen. Hört man sich bei Altgedienten um, wer ein wirklich guter Minister war, fällt seltener der Name Thomas de Maizière und öfter der von Peter Struck.
Doch sie waren nicht mit jener Herausforderung konfrontiert, der sich Boris Pistorius gegenübersieht: Es herrscht wieder Krieg in Europa, der Bündnisfall der Nato ist keine pure Theorie mehr. Und die Zeiten, wo die Bundeswehr als notwendiges Übel geduldet wurde, sind vorbei. Deutschland muss endlich Ernst machen: Es braucht eine Armee, die das eigene Land oder einen Bündnispartner verteidigen kann.
Doch es gibt Zweifel, ob die Bundeswehr dazu überhaupt fähig wäre. Genährt hat diese gerade noch einmal kein Geringerer als der Inspekteur des Heeres, General Alfons Mais. In einem Brief an den neuen Generalinspekteur Carsten Breuer warnte er einem Bericht der "Bild"-Zeitung zufolge, die Bundeswehr könne ihre Bündnisverpflichtungen und ihre Nato-Zusagen nicht ausreichend erfüllen. So werde die Division, die man der Nato bis 2025 versprochen hat, bis dahin nur "bedingt" einsatzbereit sein.
Reförmchen werden die Bundeswehr nicht retten können, es braucht Revolutionen. Die nicht nur in PDFs Pläne skizzieren, sondern auch umgesetzt werden. Das ist der Maßstab, an dem sich Boris Pistorius messen lassen muss. Soweit die schlechte Nachricht. Die gute: Man muss sagen, dass er diesen Maßstab zumindest bislang nicht scheuen muss.
Was es braucht, um tatsächlich Dinge zu verändern, sind in der Regel neue Strukturen und oft auch neue Personen an entscheidenden Stellen. Hilfreich ist auch immer, wenn man das tut, was allgemein unter "die Leute mitnehmen" firmiert.
Es scheint, als bewege sich Pistorius in allen drei Gebieten auf einem guten Weg. Er fand nicht nur von Anfang an den richtigen Ton gegenüber der Truppe und den Mitarbeitern im Ministerium. Er legt auch ein hohes Tempo vor, wenn es darum geht, die Bundeswehr von Grund auf umzukrempeln.
- Mitte März tauschte er den Generalinspekteur, formal den höchsten Soldaten in der Truppe, aus. Eberhard Zorn musste gehen, statt seiner kam General Carsten Breuer. Dieser genießt nicht nur in der Truppe einen guten Ruf, sondern auch beim Bundeskanzler. Olaf Scholz machte ihn im Dezember 2021 zum Leiter des Krisenstabs im Kanzleramt zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Biografisch verbindet Pistorius und Breuer, dass sie beide beim Flugabwehrregiment im niedersächsischen Achim waren, wenngleich zu unterschiedlichen Zeiten – Pistorius für den Grundwehrdienst, Breuer als Offiziersanwärter.
- Auch die bisherige Staatssekretärin Margaretha Sudhof musste ihren Posten abgeben an den Pistorius-Vertrauten Nils Hilmer. Sudhof war von Christine Lambrecht in dieses Amt berufen worden. Mit ihrem Abgang setzte sich Pistorius klar von der glücklosen Vorgängerin, einer Parteifreundin, ab.
- Ende März wurde bekannt, dass Pistorius die bisherige Leiterin des Beschaffungsamtes der Bundeswehr von ihrem Posten entbunden hatte. Diese war von Pistorius' Vorvorvorgängerin Ursula von der Leyen (CDU) eingesetzt worden. Dafür sollte die bisherige Vizepräsidentin Annette Lehnigk-Emden aufrücken. Dumm nur: Als die Nachricht publik wurde, war sie noch gar nicht gefragt worden. Ihre Zusage rettete Pistorius vor einer ersten Blamage. Die Behörde war immer wieder wegen der langen und bürokratischen Bestellprozesse kritisiert worden und gilt als mitverantwortlich für eine schlechte Ausrüstung der Truppe.
- Der bislang größte Coup wurde in der vergangenen Woche bekannt. Als Erstes hat die "Bild"-Zeitung berichtet, dass Pistorius im Leitungsbereich von rund 370 Stellen 160 streichen will. Das soll unter anderem den Bereich des Generalinspekteurs, aber auch den Rüstungs- und den Organisationsstab betreffen.
Pistorius tritt Flucht nach vorne an
Die Nachricht sorgte in der Bundeswehr für erhebliche Unruhe. "Der Apparat" ist im Verschleppen und Aussitzen von Reformen geübt. Pistorius muss mit starkem Widerstand aus den eigenen Reihen rechnen. Der Minister trat die Flucht nach vorne an: In einem am Gründonnerstag verschickten Schreiben bestätigte er die Reformpläne, allerdings nur in Teilen. So kündigte Pistorius an, dass ein Planungs- und Führungsstab mit 117 Mitarbeitern aufgebaut werde, der bei der Leitung angesiedelt sein soll und gerade in kritischen Lagen Entscheidungen auf ihre politische und militärische Machbarkeit hin prüfen soll.
Leiter des neuen Stabs soll der Brigadegeneral Christian Freuding werden. Der 51-Jährige promovierte Politikwissenschaftler hat den Ruf eines Ausnahmetalents; er ist sowohl in Leitungskreisen als auch in der Truppe hoch angesehen. Aber er gilt auch als CDU-nah, diente einst als Adjutant bei Ursula von der Leyen. Seine Wahl zeigt: Pistorius schert sich wenig um parteipolitische Motive, wenn es um die Besetzung von Posten geht.
Aber auch hier droht Ärger: Denn Freuding ist "nur" ein Ein-Sterne-General. Das könnte zu Autoritätsproblemen mit anderen Generälen führen. Einen kleinen Vorgeschmack gab es im vergangenen Jahr: Da ärgerten sich einige, dass Erklärvideos mit Freuding zum Ukraine-Krieg auf dem YouTube-Channel der Bundeswehr Hunderttausende Male gesehen wurden, während höherrangige Generäle deutlich weniger Klicks bekamen.
Kommt Pistorius also durch mit seinen Plänen? In der Bundeswehr kursierte bislang der Spruch: Dem Ministerium ist es egal, wer unter ihm Minister ist. Carlo Masala, Professor für internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, sieht trotzdem gute Chancen für die ambitionierten Reformen des Neuen. "Eine Verkleinerung des Ministeriums kann zum Abbau schwerfälliger und langwieriger Entscheidungsprozesse" führen, sagte Masala t-online: "Die Wiedereinführung eines Planungsstabes gibt dem Minister die Möglichkeit, ein Instrument zur politisch-militärischen Steuerung des Hauses zu haben."
Allerdings sieht Masala auch zwei kritische Punkte: "Zum einen, wie sich das zukünftige Verhältnis zwischen der Abteilung Politik und dem Planungsstab entwickeln wird, Konkurrenz oder Synergie, und zum anderen, ob die Entscheidung des Ministers, die Rolle der Generalität/Admiralität in seinem Hause zu stärken, dazu führen wird, dass er ungeschönten militärischen Ratschlag oder eher antizipierende Jasager bekommen wird."
Bei der Bevölkerung kommt Pistorius gut an: In Umfragen stieg er zum beliebtesten Politiker der Regierung auf. Das dürfte auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) freuen: Ein zweites Scheitern an der Spitze im Bendlerblock wäre nach der miserablen Bilanz von Lambrecht auch auf ihn zurückgefallen. Allerdings könnte zu viel Erfolg für Pistorius auch wieder gefährlich werden: Dann, wenn er zu einer Konkurrenz für Scholz werden sollte, dessen Unterstützung er für seine Reformen braucht.
Gute Zwischenbilanz hin oder her: Noch ist völlig offen, ob Pistorius nach Peter Struck zum zweiten erfolgreichen Niedersachsen an der Spitze des Verteidigungsministeriums wird. Oder ob er am Ende in der Reihe der zahlreichen Gescheiterten stehen wird.