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Mitgefühl ist großartig, aber reicht alleine nicht aus


Nach der Flutkatastrophe
Mitgefühl ist großartig, aber reicht alleine nicht aus

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

22.07.2021Lesedauer: 4 Min.
Meinung
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Zwei Menschen laufen Arm in Arm durch das Hochwassergebiet: Mehr als 150 Menschen starben durch die Flutkatastrophe in Deutschland.Vergrößern des Bildes
Zwei Menschen laufen Arm in Arm durch das Hochwassergebiet: Mehr als 150 Menschen starben durch die Flutkatastrophe in Deutschland. (Quelle: Wolfgang Rattay/Reuters/t-online)

Hilfsbereitschaft und Mut vieler Flutopfer und Helfer berühren uns. Doch das ist nicht genug, denn die nächste Katastrophe wird kommen. Was können wir also aus dem Unglück lernen?

Eigentlich sollte es normal sein, menschlich zu sein. Doch offenkundig ist es das nicht. Anders lässt es sich kaum erklären, dass jede Regung, jede Emotion angesichts der Klimakatastrophen in Westdeutschland und den angrenzenden Regionen gefeiert und hervorgehoben wird. Selbstverständliches wird zum Ereignis in den Medien und im Netz. Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wenn das, was sie auszeichnen sollte, permanent so herausgestellt wird?

Kanzlerin Angela Merkel wird gefeiert, weil sie eine Reporterin zurechtweist, die ein Interview führen will, während die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, bei einer Pressekonferenz Fragen beantwortet. Malu Dreyer wird aufs Podest gehoben, weil sie trotz ihrer körperlichen Beeinträchtigung die zerstörten Gebiete in Schuld in der Eifel besucht. "Tapfere Malu Dreyer: Im Rollstuhl durchs Katastrophengebiet – trotz Multipler Sklerose" oder "Deutschlands tapferste Politikerin: Malu Dreyer mit Gehhilfe im Katastrophengebiet". So titelten einige Medien. Auch eine weitere Szene, in der Angela Merkel die Hand von Malu Dreyer hält, um sie zu stützen, wird ausführlich thematisiert und gewürdigt. Wer von uns hätte in so einer Situation Frau Dreyer nicht die Hand gegeben, um ihr Halt zu geben?

Halten wir Politiker für Maschinen?

Als der Ortsbürgermeister von Schuld an der Ahr, Helmut Lussi, in Tränen ausbricht angesichts des Leids und der Zerstörung, brechen Twitter-Gewitter aus: Journalisten, Politiker und der Rest der Bevölkerung reden darüber. Ist das eine so ungewöhnliche Gefühlsregung von Herrn Lussi angesichts einer solch verheerenden Flutkatastrophe in seinem Dorf, wo er vermutlich alle Bewohnerinnen und Bewohner persönlich kennt?

Vielleicht liegt das Aufsehen wegen all dem ja daran, dass man Politikerinnen und Politiker für Maschinen hält. Für reglose Wesen. Ohne Emotionen. Kalt. Raffgierig. Wenn dem so ist, sollte man dieses Bild rasch retuschieren und korrigieren. Denn auch Politikerinnen und Politiker sind normale Menschen – man höre und staune.

Viel Anerkennung für die Helfer

Aber solche Beobachtungen lassen sich nicht nur bei Politikern machen. Ein älteres Ehepaar wird auf dem Frontlader eines Traktors aus dem Katastrophengebiet gefahren, zwei Helfer halten sie fest. "Für mich das Bild das Jahres 2021", schreibt jemand auf Facebook und erhält fast 100.000 Likes.

Eine ältere Frau kommt vom Einkaufen mit vollem Korb und umarmt vor lauter Dankbarkeit einen Feuerwehrmann, der am Straßenrand steht. Auch diese anrührende Szene geht mit vielen Worten der Anerkennung durchs Netz.

Ganze Filme existieren von den vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern, die mit ihren Schippen, Spaten, Spitzhacken und Hämmern die Schäden der Extremwetter beseitigen.

Solche Geschichten motivieren

Der 30-jährige Kölner Autohändler Mohamad Obeid verschenkt vier Fahrzeuge an die Opfer der Flut und wird dafür in den Himmel gehoben. "Wenn die Flut mich getroffen hätte, hätte ich auch viel verloren", erklärte er dem "Express" seine Motivation.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Das sind großartige, weil zutiefst empathische Verhaltensweisen. Es ist schön, wie so viele selbstlos helfen, den Schmerz mitfühlen und versuchen, das Leid zu mindern. Es geht mir an dieser Stelle weniger um Medienkritik oder sonstige Kritik an Reaktionen auf solch menschliches Verhalten. Ich selbst habe Geschichten wie diese im Netz gepostet und gelikt. Ich tat das auch aus dem Antrieb heraus, Menschen zu erzählen, wie menschlich Menschen sein können und wie beruhigend ich das finde. Geschichten über Helferinnen und Helfer motivieren womöglich auch andere. Es gibt also gute Gründe, darüber zu sprechen.

Solidarität als Normalität

Doch stellen wir uns doch mal vor, wie schön es wäre, wenn das nicht mehr nötig wäre? Wenn das alles normal wäre, was es eigentlich sein sollte? Dann würde niemand mehr aufgeregt über Menschliches berichten oder posten. Und das wünsche ich mir.

Daraus folgt, dass wir mehr für gegenseitige Hilfsbereitschaft aufbringen müssen. Dass wir beispielsweise Nachbarschaftshilfen weiter fördern sollten. Oder dass wir den Egoismus und die Selbstdarstellungen und die Schroffheit, die uns das Netz im Umgang miteinander lehrt, aktiv in der realen Welt konterkarieren und gezielt wieder mehr Freundlichkeit füreinander aufbringen sollten. Oder dass wir auch ohne Katastrophen mehr über Menschlichkeit erfahren sollten. Wenn Menschlichkeit nicht mehr gefeiert werden muss, schaffen wir Zeit und Raum für anderes.

Dann könnten wir vielleicht mehr über andere wichtige Dinge sprechen – nämlich wie es zu solchen Klimakatastrophen kommt und wie wir sie künftig verhindern wollen. Was dafür zu tun ist. Was das uns im Einzelnen kostet. Was jeder von uns dafür leisten muss.

Nächste Katastrophe wird kommen

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Natur bei anderen Menschen in Deutschland zuschlägt. Auch die Bewohner der jetzt betroffenen Gebiete hätten vielfach niemals für möglich gehalten, von so einer Katastrophe getroffen zu werden! Flutkatastrophen? Das war bisher immer in Asien, Afrika oder in den USA. Aber in Deutschland? Bei uns? Niemals! Von dieser Sicherheit können wir uns verabschieden.

Nächstes Jahr sind es vielleicht Waldbrände, die in Deutschland Städte und Gemeinden zerstören wie vor Kurzem in Kanada. Wenn die aktuelle Klimakatastrophe mit Starkregen, Unwettern und Fluten eins lehrt, dann, dass es jeden treffen kann. Egal wo, egal wie, egal wann. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Das können wir besser, wenn Menschlichkeit als Normalität angekommen ist.

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Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal-Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.

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