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Kindermorde in Solingen: "Bild" abzukanzeln ist einer Demokratie unwürdig


Meinung
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Kindermord in Solingen
"Bild" abzukanzeln ist einer Demokratie unwürdig

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

10.09.2020Lesedauer: 6 Min.
Mathias Döpfner bei einem Kongress (Archivbild): Der Springer-Vorstandschef steht für die Berichterstattung seiner "Bild"-Zeitung in der Kritik.Vergrößern des Bildes
Mathias Döpfner bei einem Kongress (Archivbild): Der Springer-Vorstandschef steht für die Berichterstattung seiner "Bild"-Zeitung in der Kritik. (Quelle: Future Image/imago-images-bilder)
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Die Morde von Solingen waren ein gefundenes Fressen für Boulevard-Zeitungen. Besonders für die Berichterstattung der "Bild" hagelte es Kritik. Doch das Problem liegt nicht nur bei dem Blatt selbst.

Beim Basketball zählen Dreipunktewürfe, und Stephen Curry ist der Dreier-König der NBA. Beim Deutschen Presserat zählen Rügen, und das Bayern München des deutschen Journalismus ist in dieser Disziplin seit Jahren unangefochten die "Bild"-Zeitung: 214 kassierte sie seit 1986. Zum Vergleich: Auf Platz zwei rangiert die "B.Z." mit nur 21 Rügen.

Der Vergleich hinkt, werden manche einwerfen: Dreier schmücken Stephen Curry, Rügen haften als Makel an "Bild". So könnte man meinen. Doch für das Blatt sind sie auch ein Erfolg – legt man die Maßstäbe von Verlags-Ikone Kai Diekmann an: "Zum Markenkern von Bild gehört nun mal, zu provozieren und zu polarisieren", dozierte er jüngst im Interview mit "Die Zeit": "Da muss man Menschen manchmal wehtun."


Taten seine Adepten nicht genau das, als sie über den fürchterlichen fünffachen Kindesmord von Solingen berichteten? Chats eines Kindes auswerteten und zitierten? Weitere Angehörige und Vertraute der Opfer an die Öffentlichkeit zerrten?

Der Aufschrei befeuert das Geschäft

Das ist seit Jahrzehnten exakt das Geschäft von Boulevardzeitungen und niemand beherrscht es so perfekt wie "Bild". Trotzdem ist der Furor nun wieder groß: Breite Empörung von Twitter bis zur "Süddeutschen Zeitung". "Enteignet Springer!", riefen die 68er damals. "Boykottiert Bild!", ruft Anne Fromm nun via "taz". Damit wir uns richtig verstehen: Selbstverständlich ist das Vorgehen von "Bild" in Solingen skrupellos, frei von jeglichem Erkenntnisgewinn und damit verurteilenswert. Aber im Sinne Kai Diekmanns befeuert der aktuelle Aufschrei weiter das Geschäft der Zeitung. Die Voyeure dieses Landes wissen jetzt noch besser, bei der nächsten Gräueltat kriegen sie bei "Bild", was sie brauchen.

Das Blatt deshalb abzukanzeln, wäre einer Demokratie dennoch unwürdig. Medien müssen sich im Rahmen geltenden Rechts frei entfalten können. Jedwede anarchistische Fantasie gegen "Bild" würde die Presse- und Meinungsfreiheit aller gefährden. Allzu leicht kann sich eine "Cancel Culture" gegen einen selbst richten; spätestens wenn sich Machtverhältnisse verschieben.

"Kauft keine Bild"-Kampagnen sind nicht nur nicht die Lösung, sie sind auch hemmungslos veraltet. Die Überhöhung der "Bild" ist antiquiert. Auch was in "Bild" steht, ist morgen, übermorgen oder spätestens in einer Woche in der Regel wieder vergessen – sofern man nicht Christian Wulff heißt.

"Bild" musste massiv Federn lassen

"Bild" ist zwar nach wie vor die reichweitenstärkste Tageszeitung, mithin ist sie gewiss nicht ohnmächtig und kann weiter Meinungen verstärken. Aber im Kampf mit anderen Massenmedien und den sozialen Medien musste sie massiv Federn lassen. Die verkaufte Auflage geht dramatisch zurück: 1984 waren es rund 5,5 Millionen Exemplare am Tag, heute sind es noch 1,2 Millionen. Das zahlungspflichtige Online-Angebot "Bild plus" kann den Verlust nicht kompensieren, es steht derzeit bei 430.000 Abos.

Online ist die Reichweite zwar groß, aber t-online hatte beispielsweise im Juli mit 29 Millionen deutlich mehr Unique User als "Bild" mit 25, auch "Focus" lag noch vor ihr, und nicht allzu weit hinter ihr folgten Online-Angebote von "Spiegel", "Welt", "n-tv" und anderen. Die meisten Leser hat "Bild" bei den 50- bis 59-Jährigen, die wenigsten bei den 14- bis 29-Jährigen. Schon Altkanzler Gerhard Schröder hat schlussendlich erkannt, dass man zum Regieren doch mehr braucht als "Bild, BamS und Glotze" – irgendwann wollte er dem Blatt gar keine Interviews mehr geben.

Jedem Leser muss die Taktik der "Bild" klar sein

Bürgerinnen und Bürger müssen lernen, wie Medien funktionieren und wie sie arbeiten; welche Wirkung sie im Allgemeinen haben und welche Relevanz ein jeweiliges Medium im Speziellen einnehmen kann. Nicht jeder Beitrag, der einem persönlich missfällt, stellt die Welt auf den Kopf, wohingegen Medien-Hypes, die weit übers Ziel hinausschießen, schlimme Folgen haben können.

"Bild" fährt journalistische Kampagnen, ihr geht es nicht primär um möglichst objektive Darstellungen. Das muss jedem Bürger und jeder Bürgerin ebenso klar sein, wie die politische Grundausrichtung von Medien generell – zum Beispiel "eher rechts" oder "eher links". Wer "taz" liest, muss wissen, dass die meisten Mitarbeiter dort das Weltgeschehen aus einer eher linken Perspektive betrachten, während "Cicero"-Leser Einschätzungen von einer eher rechten Warte erhalten. Beides ist völlig in Ordnung, wenn man sich dessen beim Lesen bewusst ist.

Auf lange Sicht viel wichtiger als permanente Empörungsstürme ist somit der Aufbau von Medienkompetenz – angefangen in der Schule. Wie schlecht es darum in Deutschland bestellt ist, bekräftigte Anfang September eine Studie, die einen “besorgniserregenden Befund” zutage förderte: Lehrkräfte zeigen deutliche Defizite in Medienkunde.

Mein Appell lautet: Klärt auf! Sprecht über Medien! Erläutert "Bild"! "Bild dir deine Meinung!“, heißt ein Werbeslogan des Blattes – leider ist der Imperativ nur unvollständig überliefert. Es fehlt der Zusatz "über 'Bild'": "Bild dir deine Meinung über 'Bild'!"

Weniger Schimpftirade, mehr Information

Kritiken gibt es bereits zuhauf. Günter Wallraff, „Der Mann, der bei Bild Hans Esser war“ und 1977 den "Aufmacher" schrieb, oder die "Brandstifter"-Generalabrechnung des Magazins "Der Spiegel" 2011 haben hier Marksteine gesetzt. Wer regelmäßig Kritik an "Bild" will, schaut ins "BILDblog". Meine Devise ist: Weniger Schimpftirade, mehr Information.

"Bild" ist wie ein unartiges Kind. Sie steht irgendwo zwischen Astrid Lindgrens Michel von Lönneberga und dem jugendlichen Intensivtäter "Mehmet". Durch zu viel Strafe gewöhnt man sich an selbige und ist irgendwann irritiert, wenn es keine Konsequenzen mehr gibt. Dann tut man alles, um doch wieder bestraft zu werden. Jenseits der eigenen Familie folgt dann mitunter die harte Erkenntnis: Dem Delinquenten ist nicht zu helfen, seine Umgebung muss vor ihm geschützt werden. Vor "Bild" und anderen Boulevardmedien lässt sich nur durch Aufklärung effektiv schützen.

Aufgeklärte Leserinnen und Leser, die es fürchterlich finden, wenn ein Elfjähriger, der mit unvorstellbarem Leid konfrontiert ist, in die Öffentlichkeit gezerrt wird, sollten lernen, ihren eigenen Voyeurismus zu zügeln, und solche Artikel nicht anklicken oder lesen (inzwischen hat "Bild" ihren offenbar gelöscht).

Prominente, die den "Bild"-Journalismus unerträglich finden, können es machen wie Christian Drosten und auf Abstand zur Redaktion gehen. Politikerinnen und Politiker können sich auf Sachinterviews beschränken und auf Homestories verzichten. Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner hat schon vor Jahren offen gedroht und über "Bild" gesagt: "Wer mit ihr im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten. Diese Entscheidung muss jeder für sich selbst treffen."

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Boulevardpresse erfüllt Funktionen

Journalistinnen und Journalisten, die sich für die Vorgehensweise ihrer "Bild"-Kollegen schämen, haben tagtäglich die Möglichkeit, es anders und besser zu machen.

Die Boulevardpresse wird sich jedenfalls nicht beerdigen lassen. Und das sollte auch nicht das Ziel sein. Boulevardpresse erfüllt Funktionen. Neben reiner Unterhaltung sind diese durchaus von tieferer gesellschaftlicher Bedeutung. Boulevardpresse schafft es besonders gut, komplizierte Zusammenhänge zu vereinfachen, sodass weniger gebildete Menschen sie verstehen können.

Gute, sprich professionelle Boulevardpresse – und "Bild" ist zweifelsfrei professionell – ist oft schneller als andere Medien, und das hilft im Kampf gegen Fake News in den noch schnelleren sozialen Medien.

Boulevardpresse schafft es ferner am besten, Aufmerksamkeit selbst für Themen zu generieren, die zwar wichtig sind, aber als langweilig gelten wie Finanz- und Wirtschaftskrisen; kein anderes Medium in Deutschland hat so viel Aufmerksamkeit auf das Leid der Menschen im Syrien-Krieg gelenkt wie "Bild". Schließlich wird es immer ein gewisses Potenzial an Sensationslust in einer Gesellschaft geben. Da ist es besser, dieses Bedürfnis wird von einem Medium wie "Bild" bedient, das man kennt und mit dessen Führungsleuten man reden kann, als durch irgendwelche obskuren Blogs und Internetseiten, die sich kaum kontrollieren lassen.

Das alles bedeutet nicht, dass der Deutsche Presserat unwichtig wäre. So wie ein ungezogenes Kind nicht gänzlich ohne Strafe bleiben kann, muss auch mediales Fehlverhalten weiter sanktioniert werden. Medienkritik und manchmal sogar Empörung über Berichterstattungen muss es in klassischen wie neuen Medien weiterhin geben.

Eine Grenze wird jedoch überschritten, wenn ein Vernichtungswille erkennbar wird. Ineffektiv oder sogar kontraproduktiv wird es, wenn sich Kritik und Empörung bloß noch in ritualisierten Verhaltensmustern ergehen und nichts Neues mehr hervorbringen. Nichts ermüdet mehr, als immer die alte Leier in Dauerschleife zu hören. "Bild"-Bashing allein, auch wenn "Bild" es wie im Fall Solingen verdient hat, bringt uns nicht voran. Die Gesellschaft muss unbedingt einen kritischeren Umgang mit dem eigenen Medienkonsum gelehrt werden.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Muslimisch und liberal!" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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