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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Biden brüskiert Israel Ein folgenreiches Manöver
Die Amerikaner erhöhen den Druck auf ihren engsten Verbündeten im Nahen Osten. Mit einem Manöver im UN-Sicherheitsrat riskiert Joe Biden eine Krise mit Israel.
Bastian Brauns berichtet aus Washington
Zwischen der israelischen Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu und der amerikanischen Regierung unter Präsident Joe Biden bahnt sich eine diplomatische Krise an. Eine kleine Handbewegung zum Krieg im Gazastreifen hatte im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen große Auswirkungen.
Linda Thomas-Greenfield, Bidens Chefdiplomatin bei der UN, saß am Montag in New York neben ihren Kolleginnen und Kollegen und legte kein Veto ein. Stattdessen hob sie ihre rechte Hand, um die Enthaltung Amerikas zu signalisieren. Damit war klar: Zum ersten Mal seit Beginn des Kriegs im Gazastreifen ist es gelungen, eine derartige Resolution zu verabschieden, ohne dass eine der Vetomächte sie verhindert. Für die USA ist das ein diplomatisch extrem heikler Moment, denn er bedeutet eine Konfrontation mit Israel, einem ihrer engsten Verbündeten.
Völkerrechtlich bindend fordert der UN-Sicherheitsrat jetzt erstmals, ohne die Hamas-Terroristen oder den 7. Oktober als Ursache für die aktuelle Situation zu nennen, eine "sofortige", "anhaltende" und "nachhaltige Waffenruhe" im Gazastreifen. Zwar wird auch die Freilassung der verschleppten, mehr als hundert Geiseln gefordert. Im Vordergrund aber steht der Waffenstillstand mit einem religiösen Bezug zum muslimischen Fastenmonat Ramadan.
Bei früheren Resolutionsentwürfen hatten bislang entweder die USA oder Russland ihr Veto eingelegt, jeweils mit der Begründung, bestimmte Aspekte würden darin nicht vorkommen oder zu stark hervorgehoben. Dass die USA dieser extrem abgespeckten Version jetzt zugestimmt haben, signalisiert eine ziemlich deutliche, diplomatische Wende in Bezug auf den Krieg im Gazastreifen. Ein deutliches Zeichen an beide Parteien, aber insbesondere an Israel.
Für Netanjahu ist das ein Affront
Dessen Premierminister Benjamin Netanjahu hatte den USA schon vor der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat gedroht. Er werde eine eben erst arrangierte, hochrangig besetzte Delegationsreise nach Washington absagen, sollte die Biden-Regierung den Weg für diese Resolution tatsächlich per Enthaltung freimachen. Dieser Vorgang dürfte in Washington als Erpressung aufgefasst worden sein. Kurz nach der Sitzung macht Netanjahu seine Drohung dann wahr und sagte die Reise ab. Joe Biden hatte Netanjahu zu diesem Treffen in der US-Hauptstadt gedrängt, um einen alternativen Plan zu einem Angriff auf Rafah zu entwickeln.
Schon lange versucht die US-Regierung den israelischen Premierminister davon zu überzeugen, mehr humanitäre Hilfe in den abgeriegelten Gazastreifen zuzulassen, um einer schwerwiegenden Hungersnot der palästinensischen Zivilbevölkerung entgegenzuwirken. Auch Angriffe auf die Stadt Rafah, in der Hunderttausende Flüchtlinge ausharren, versuchte Joe Biden bislang zu verhindern.
Das Abstimmungsverhalten der USA im UN-Sicherheitsrat, mit dem die Resolution zum Gazastreifen ermöglicht wurde, stellt eine nächste Stufe dar, um den Druck auf Benjamin Netanjahu zu erhöhen. Die Maßnahmen gingen aber schon vorher über reine Rhetorik hinaus. Das Weiße Haus verhängte etwa Sanktionen gegen israelische Siedler im Westjordanland. Auch Netanjahus stärkster politischer Konkurrent Benny Gantz wurde nach Washington eingeladen, um ein Zeichen zu setzen. Mit Hilfslieferungen per Luft- und Seebrücken versuchen die Amerikaner außerdem, gemeinsam mit den Europäern zumindest das schlimmste Leid der Palästinenser zu lindern.
Die sorgfältigen Erwägungen der Biden-Regierung
Das Risiko für die Biden-Regierung, mit der Resolution diplomatisches Porzellan bei ihrem engsten Verbündeten im Nahen Osten zu zerschlagen, ist groß. Nach t-online-Informationen aus Diplomatenkreisen liefen die Diskussionen dazu über das ganze Wochenende. Die Entscheidung wurde dann auf höchster Regierungsebene in Washington zwischen dem State Department und dem Weißen Haus getroffen. Bidens Außenminister Antony Blinken war gerade erst von einem neuerlichen Besuch bei Netanjahu zurückgekehrt und empfängt ausgerechnet an diesem Montag noch den israelischen Verteidigungsminister Joav Galant.
Aus US-Sicht dürften drei Gründe eine Rolle gespielt haben, weshalb eine diplomatische Krise mit Netanjahu trotzdem in Kauf genommen wird:
Erstens sind die Zustände für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen vor den Augen der Weltöffentlichkeit unbestreitbar qualvoll. In einer komplizierten geopolitischen Weltlage müssen die USA versuchen, andere Staaten, wie aus dem sogenannten Globalen Süden, nicht zu verprellen. Deren Unterstützung brauchen sie zum Beispiel beim Kampf der Ukraine gegen Russland.
Zweitens begann die Krise mit der teils rechtsextremen israelischen Regierung schon lange vor dem Angriff der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023. Biden fand im vergangenen Jahr beispielsweise deutliche Worte gegen die auch in Israel hochumstrittene Justizreform, die einen Abbau der Gewaltenteilung bedeutet hätte. Netanjahu gilt zudem als Unterstützer Donald Trumps und ist außerdem im eigenen Land politisch schwer angeschlagen. Es sich mit ihm zu verscherzen, könnte aus Sicht des Weißen Hauses als verkraftbar einkalkuliert werden.
Drittens haben Joe Biden und die Demokraten im Wahljahr das Problem, dass Teile der eigenen Anhänger entschiedene Gegner des militärischen Vorgehens Israels sind. Dazu gehören neben arabischstämmigen Amerikanern auch Teile der schwarzen Wähler und vor allem viele junge Amerikaner. Diese wählen traditionell eher demokratisch und erwarten schon seit Monaten einen Waffenstillstand. In entscheidenden Bundesstaaten wie Michigan könnten deren wertvolle Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen im Herbst fehlen, womit Donald Trumps Chancen auf einen Sieg steigen würden. Von einem Waffenstillstand im Gazastreifen würden also nicht nur die Palästinenser profitieren. Womöglich hoffen die Demokraten damit auch auf einen positiven Effekt im eigenen politischen Lager (mehr dazu lesen Sie hier).
Wie groß im Weißen Haus die Sorge sein muss, Israel mit der eigenen Enthaltung verärgert zu haben, zeigten sofort mehrere Äußerungen von US-Seite. Noch im UN-Sicherheitsrat sitzend, bezeichnete US-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield nach der Verabschiedung die Gaza-Resolution als "non-binding" also als völkerrechtlich nicht bindend. Es scheint sich um eine vereinbarte Sprachregelung zu handeln, um Israel zu besänftigen.
Denn wenig später zogen in Washington der Sprecher des Außenministeriums Matthew Miller und Bidens Koordinator des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, nach. Auch sie bezeichneten die Resolution als "nicht bindend". Kirby sagte direkt an Netanjahu gewandt: "Unsere Abstimmung stellt, ich wiederhole es, sie stellt keine Veränderung unserer bisherigen politischen Position dar." Die Resolution habe "keinerlei Auswirkungen auf Israel und seine Möglichkeiten, gegen die Hamas vorzugehen", so Kirby.
Laut der Charta der Vereinten Nationen sind verabschiedete Resolutionen des Sicherheitsrates aber sehr wohl bindend. Die US-Regierung versucht darum wohl einen sprachlichen Kniff. Sie hält die Waffenruhe insofern für nicht bindend, solange die israelischen Geiseln von der Hamas nicht freigelassen wurden. Nach t-online-Informationen tauchten die beiden Forderungen nach Waffenruhe und Freilassung nach tagelangen Verhandlungen aus eben diesem Grund in der Resolution in einem gemeinsamen Absatz auf.
- Eigene Recherchen
- Stream zur Sitzung des UN-Sicherheitsrats in New York (Englisch)
- un.org/securitycouncil: Resolution S/RES/2728 (2024) (Englisch)