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Ukraine: Putins Rede – eine Lektion für den Westen, die die Welt verändert


Warum Putins Rede die Welt verändert

  • Bastian Brauns
Von Bastian Brauns, Washington

Aktualisiert am 22.02.2022Lesedauer: 5 Min.
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Russisches Luftabwehrsystem bei einer Übung im Süden des Landes.
"War längst überfällig": In einer historischen Ansprache verkündet Putin die Anerkennung der abtrünnigen Provinzen Luhansk und Donezk als unabhängige Gebiete. (Quelle: Glomex)

Mit einer vermeintlichen Geschichtsstunde versucht Russlands Präsident Putin, einen Krieg in der Ukraine zu rechtfertigen. Das hat Konsequenzen für ganz Europa.

Plötzlich stehen die Telefone der westlichen Staats- und Regierungschefs überhaupt nicht mehr still. Über abhörsichere Leitungen spricht Joe Biden im Weißen Haus mit dem Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron.

Der Grund: Wladimir Putin hat die beiden abtrünnigen Gebiete in der Ostukraine offiziell als unabhängig anerkannt und nach eigenen Worten sogleich eine "Friedensmission" seiner Streitkräfte in den betroffenen Gebieten angekündigt.

Eine Art Online-Proseminar

Fast eine Stunde lang musste der Westen zuvor aus Sicht des russischen Präsidenten im Kreml zum Nachsitzen kommen. Wohl orchestriert saß Wladimir Putin vor den Fernsehkameras des russischen Staatsfernsehens. "Russia Today" lieferte serviceorientiert die lupenreine englische Übersetzung mit.

Was folgte, war eine Art historisches Online-Proseminar des Kremlchefs. Es sollte eine Lektion für den Westen werden, eine Rechtfertigung für jegliche russische Unternehmungen. Es wurde eine Rede, welche die Welt, maßgeblich Europa und seine nach dem Kalten Krieg entwickelte Sicherheitsarchitektur, langfristig verändern könnte. Und noch wissen die USA und ihre Verbündeten nicht, wie sie darauf konkret reagieren können. Zumindest nicht so, dass es wirklich noch helfen könnte.

Warum ist das der Fall?

Wie Putin historische Fakten schaffen will

Nicht ohne Grund hielt Wladimir Putin diese öffentliche Geschichtsstunde. Der russische Präsident rechtfertigt sein gegenwärtiges und mögliches zukünftiges Handeln vor allem aus seiner Deutung der Vergangenheit heraus. Aus der Geschichte lernen heißt für ihn, das Narrativ zu definieren.

So griff Putin zurück auf die Anfänge der Sowjetunion, auch auf den russischen Diktator Josef Stalin. "Die moderne Ukraine wurde komplett von Russland geschaffen", sagte Putin. Übersetzt heißt das, dieses Land existiere nur, weil Russland es zugelassen habe. Die Ukraine sei "nie eine wahre Nation" gewesen. Es klingt wie der Versuch, der Ukraine damit das geltende Völkerrecht abzusprechen. Eine Nation, die keine wahre ist, hat auch keine Rechte. Die demokratisch gewählte Regierung in Kiew bezeichnet der Kreml nicht ohne Grund stets nur als "Regime".


In der Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, nach dem Zusammenbruch der UdSSR, so die Behauptung Putins, sei die Ukraine nie in der Lage gewesen, "selbst eine staatliche Stabilität zu erreichen". Sie sei deshalb immer auf andere Länder angewiesen gewesen, insbesondere auf die USA.

Es ist Putins nächstes Argument, die Geschicke der Ukraine bestimmen zu dürfen. Denn das Land, das kein wahres Land sei, werde vom Westen unterwandert. Das könne Russland "nicht ignorieren". Die Ukraine sei ein "Marionettenstaat" des Westens und der USA. "Die Ukraine wird heute von außen kontrolliert", behauptet Putin. Der Westen kontrolliere "das ganze Land", maßgeblich aus der US-Botschaft in der Hauptstadt Kiew heraus und über Nichtregierungsorganisationen (NGO).

Drohung für alle Ex-Sowjetstaaten

Es fallen Sätze in Putins Rede, die alle ehemaligen Sowjetrepubliken betreffen. Den nationalen Republiken erlaubt zu haben, das russische Imperium zu verlassen, sei ein "Wahnsinn" gewesen, so Putins Sicht. Ein "Raub" sei dies gewesen. Eine Drohung – nicht nur gegen Weißrussland und die Ukraine, gegen Georgien, Aserbaidschan und viele mehr, sondern auch gegen heutige Nato-Mitgliedsstaaten wie Litauen, Estland und Lettland. Diese Staaten trügen ohnehin nur ein vorurteilsbeladenes Klischee einer angeblichen russischen Bedrohung in die Nato, so Putin.

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Der russische Präsident stellte weiterhin Mutmaßungen an, die Ukraine könne als vom Westen angeblich unterwanderter Staat leicht und jederzeit an Nuklearwaffen gelangen. Dass der Nato-Beitritt der Ukraine derzeit gar nicht ansteht, wie es Bundeskanzler Olaf Scholz soeben erst klargestellt hat, ist ihm offenkundig egal. "Wenn nicht morgen, dann eben übermorgen", raunt Putin. Das ändere historisch nichts für Russland.

Putin will Menschen schützen, die "russisch denken"

Die Nato habe der damaligen Sowjetunion versprochen, dass es keine Erweiterung nach Osten geben werde. Dieses zumindest in Verträgen allerdings nirgends belegte Versprechen sei gebrochen worden. Mehr noch, Putin sagte, er habe im Jahr 2000 den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton gefragt, was dieser von einem Nato-Beitritt Russlands halte. Clinton habe ihn abgelehnt.

Und so sei es nach Putins Logik nun eben so, wie es sei: Russland setze sich zur Wehr, um Menschen in der Ukraine und überall sonst zu schützen. Und zwar jene, die nicht nur Russisch sprechen, sondern auch "russisch denken".

Das Ende der europäischen Friedensordnung

Putins lange historische Herleitung war keineswegs neu. Schon vor Monaten schrieb der Präsident einen Aufsatz, in dem er versuchte, die Zugehörigkeit der Ukraine zu Russland historisch zu begründen.

Nach der nun öffentlich zelebrierten Nachhilfestunde für den Westen setzte Putin aber schließlich seine Unterschrift unter Dokumente, die das Schicksal der Ukraine besiegeln sollen. Luhansk und Donezk, die von Separatisten kontrollierten Gebiete in der Ostukraine, gelten aus Russlands Sicht fortan als unabhängig.

Putin schafft Rechtfertigung für 2014

Er trennt diese Region einfach per Dekret ab. Putin bricht damit das Völkerrecht. Seine Rede sollte dies offenkundig verschleiern. Er rechtfertigt mit ihr rückwirkend sein kriegerisches Handeln im Jahr 2014. Er rechtfertigt mit ihr zusätzlich einen weiteren Krieg gegen den souveränen Staat Ukraine, auch vor seiner eigenen Bevölkerung. Mit dieser Herleitung ließen sich auch zahlreiche weitere Interventionen rechtfertigen: eben überall dort, wo russische Minderheiten leben.

Putin gelingt damit eine Invasion ohne Invasion. Denn nach seiner Logik sind seine Truppenbewegungen über die Grenze der Ukraine hinweg ab sofort ein "Freundschaftsdienst" oder eben eine "Friedensmission". Der Westen tut sich damit erkennbar schwer. War das jetzt schon eine Invasion? Diese Frage wird im Weißen Haus heftig diskutiert.

Bündnisfall wird wahrscheinlicher

Eine Gefahr besteht unterdessen längst nicht nur für die Ukraine. Ob Flüchtlingsbewegungen oder ukrainischen Soldaten, die bei der Flucht in westliche Staaten in Kampfhandlungen verwickelt werden – all das könnte dramatische Auswirkungen auf Europa und die ganze Welt haben. Von wirtschaftlichen Folgen ganz zu schweigen.

Russische Truppen in der Ukraine und in Weißrussland stünden gefährlich nahe an Nato-Staaten im Baltikum und Polen. Man stelle sich vor, ukrainische Soldaten auf der Flucht schössen von Polen aus auf russisch besetztes Gebiet und dortige Truppen reagierten darauf. Ein sogenannter Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags könnte auf diese Weise viel wahrscheinlicher werden als jemals zuvor seit Ende des Kalten Krieges.

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Die Welt dürfte nach dieser Rede samt den folgenden Unterschriften und Befehlen eine andere sein als noch vor wenigen Stunden. Putin pokert nicht nur. Stück für Stück schafft er dazu die Fakten.

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Verwendete Quellen
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