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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Proteste von Trump-Anhängern Gekommen, um Geschichte umzuschreiben
Die Kundgebung zum 6. Januar am Kapitol war klein und verlief friedlich. Doch genau darum ging es den Organisatoren. Sie wollen eine alternative Wahrheit erzählen.
"Wölfe im Schafspelz werden unter uns sein" – so steht es auf den Zetteln, die eine Frau aus Iowa vor dem Kapitol in der US-Hauptstadt Washington verteilt. Einen ganzen Stapel von ihnen hat sie in Farbe selbst ausgedruckt, um vor Menschen zu warnen, die angeblich für Unruhe sorgen wollen bei dieser Demonstration am Samstagnachmittag.
So wie auch am 6. Januar, als nach Meinung vieler staatliche Agenten und die Antifa den gewaltsamen Sturm auf das Kapitol angezettelt hätten. Das "wahre Böse" sei aber leicht zu entlarven, sagt die Frau. Das Rezept dafür steht auf ihren Zetteln: Man solle verdächtige Personen einfach in Gespräche über Gott verwickeln. Die Wölfe, das Böse "spricht nicht gerne über Jesus Christus, unseren Retter".
Befreiung der "politischen Gefangenen"
Die Amerikaner, die sich an diesem Wochenende nach Washington zur Demonstration mit dem Motto "Gerechtigkeit für den 6. Januar" aufgemacht haben, kommen aus dem ganzen Land. Manche mit dem Auto aus Florida, andere mit dem Flugzeug aus Arizona oder Massachusetts. Tatsächlich sind es nur einige Hundert. Zwischenzeitlich scheint es so, als seien sogar mehr Reporter, Journalisten und Polizisten da. Aber den Sturm auf das Kapitol hatte die ganze Welt live verfolgt. Das Interesse ist dementsprechend groß, auch wenn im Grunde klar ist, dass es an diesem Tag keinen erneuten Sturm geben wird.
Darum geht es den Organisatoren auch nicht, sondern darum, ein Signal zu setzen: Seht her! Wir sind friedlich und wir waren es auch im Januar. Was die Medien und die Demokraten erzählen, ist falsch. Die Geschichte war ganz anders.
Die Demonstranten eint ein Mix aus gemeinsamen Überzeugungen: Die Vorkommnisse vom 6. Januar seien vom FBI, der Antifa und der Black-Lives-Matter-Bewegung angezettelt worden. Donald Trump sei der rechtmäßige Gewinner einer manipulierten Wahl. Jene, die bei dem Sturm auf das Kapitol Trump-Mützen oder T-Shirts trugen, seien Agenten der Gegenseite gewesen. Die vielen hundert Inhaftierten seien allesamt unschuldig, letztlich künstlich aufgestachelte, eigentlich friedliche Besucher der Hauptstadt gewesen und darum nun politische Gefangene.
Es kommen wenige, aber von überall her
Adam und Ron haben sich gerade mit zwei US-Flaggen ausstatten lassen und wandern zu der kleinen Bühne vor dem dieses Mal weiträumig und durch einen hohen Zaun abgesperrten Kapitol. "Die Polizei hat die Leute damals doch mit Absicht hereingelassen", ist Adam überzeugt. Es sei eine Falle gewesen. Sie seien nun hier, um friedlich für die Freilassung der Inhaftierten zu demonstrieren. Sie kamen mit dem Auto aus Florida. "Das darf man immerhin noch in diesem Land", sagt Ron.
Thomas ist mit seiner Mutter Charmaine aus Arizona gekommen. Sie wirkt jung, könnte auch seine ältere Schwester sein. Als man sie darauf anspricht, kokettiert sie und sagt: "Das macht der Kapitalismus und Jesus Christus." CNN steht auf dem Schild geschrieben, das sie in der Hand hält. Sie hat die Buchstaben erweitert zu: "C orrupt N ews Network." Thomas klagt auf seinem Schild an, die Polizei habe am 6. Januar einen unbewaffneten Bürger ermordet. Er spielt an auf Ashli Babbitt, die bei dem Versuch, mit dem Mob weiter ins Kapitol vorzudringen, von einem Polizisten erschossen wurde.
Gut acht Monate nach dem Kapitol-Sturm sind laut Polizeiangaben nur rund 500 Demonstranten nach Washington gekommen, in eine Hauptstadt mit rund 700.000 und einem Land mit rund 330 Millionen Einwohnern – und dennoch liegt die Aufmerksamkeit der Medien auf dieser Veranstaltung. Es scheint das alte Dilemma der Berichterstatter zu sein, eine kleine Angelegenheit durch massenhafte Berichterstattung größer zu machen, als sie ist. Doch das Trauma sitzt tief und auch die Wut über jene, welche die Vorkommnisse nun verharmlosen wollen.
Ein bekannter Trumpist als Organisator
Erst einen Tag zuvor hatte die Sprecherin der Demokraten im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, einen drastischen Vergleich gezogen. Bei einem Auftritt in London brachte sie zum Ausdruck, wie furchtbar der 6. Januar für die US-Demokratie gewesen sei. Die Anschläge vom 11. September seien ein Angriff von außen gewesen. "Was am 6. Januar geschehen ist, war ein Angriff von innen. Beides war entsetzlich", sagte Pelosi.
Republikanische Kongressmitglieder sind, anders als zum Teil erwartet, nicht vor das Kapitol gekommen. Nur zwei Republikaner, die gerne bei den Zwischenwahlen 2022 gewählt werden wollen, sprechen auf der Bühne. Es sind Mike Collins aus Georgia und Joe Kent aus Washington. Auch sie sprechen von "politischen Gefangenen", denen ein großes Unrecht widerfahre.
Dabei legte der Hauptorganisator dieser "Justice for J6"-Kundgebung schon vorab großen Wert darauf, politisch neutral zu erscheinen. Matt Braynard, ein ehemaliger Wahlkampfstratege von Donald Trump und Gründer der Pro-Trump-Organisation "Look Ahead America", hatte die Teilnehmer deutlich ermahnt, keinerlei politische Kennzeichen mitzubringen. Keine roten MAGA-Mützen (Make America Great Again) sollten getragen werden, weil es rein um die Sache ginge: Gerechtigkeit für die "politischen Gefangenen", so Braynard.
Auch jetzt wiederholt er es vor den Anwesenden. Braynard muss sie aber offenbar ermahnen: "Seid freundlich zu den Polizisten! Seid freundlich zu den Medien!" Selbst Buh-Rufe versucht er immer wieder zu unterdrücken. Als bei einer von ihm gezeigten Foto-Präsentation die linke Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez auftaucht, unterbricht er die wütende Menge: "Nein! Wir buhen niemanden aus. Nein, auch das machen wir nicht." Stattdessen lässt er ein Gebet für die Toten vom 6. Januar sprechen. "Amen."
Der Wolf im Schafspelz, so scheint es, ist nicht die Antifa, sondern Braynard. Regelmäßig tritt er sonst bei dem Rechtsextremisten, Scharfmacher und Breitbart-News-Gründer Steve Bannon, in dessen Podcast "Bannon's War Room", auf. Es geht ihm jetzt aber um die zu erzeugenden Bilder. Darum, zu zeigen, dass es lediglich darum gehe, Verfassungstreue und Meinungsfreiheit einzufordern. Immer wieder erwähnen er und die anderen Redner den ersten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung: Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, freie Meinungsäußerung, freie Ausübung der Religion.
Trump erklärt sich solidarisch mit den Gefangenen
Braynard lässt einen Vater sprechen, der sich Jeff nennt. Dessen Sohn sitze seit Monaten im Gefängnis, natürlich unschuldig. Eine Frau kommt auf die Bühne, die ihre asiatisch-italienischen Wurzeln betont. Sie sieht sich selbst als Beweis dafür, dass hier keine weißen Rassisten seien. Sie habe Bill Clinton und sogar zweimal Barack Obama gewählt. Dann aber Donald Trump. "Die Schubladen der Mainstream-Medien versagen", sagt sie und wirbt für ihre Webseite und ihren Social-Media-Account. Dort würde man die Wahrheit erfahren.
Auch wenn es an diesem Samstag ganz gezielt nicht um Donald Trump gehen soll, so ließ der Ex-Präsident seine Anhänger vorab nicht im Zweifel darüber, wie sehr er deren politisches Engagement in der Hauptstadt schätzt. Zwei Tage vor der Demonstration hatte er einmal mehr versucht, sich als eigentlich rechtmäßiger Präsident der USA zu inszenieren. Und obwohl er die Veranstaltung in Washington nicht namentlich erwähnte, war doch klar, an wen sich seine Worte richten sollten.
"Unsere Herzen und Gedanken sind bei jenen Menschen, die im Zusammenhang mit den Protesten vom 6. Januar gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen auf so unfaire Weise verfolgt werden", ließ Trump in einem Statement verbreiten. Dieses Vorgehen der Justiz beweise neben allem anderen äußerst aufschlussreich, dass man es in den USA mit einem Zwei-Klassen-Justizsystem zu tun habe. Wohl nicht zufällig bediente er sich dann noch einer Formulierung aus einem Bibel-Psalm. "Justice will prevail!", Recht würde wieder hergestellt werden, lautete seine göttlich tröstende Verkündigung.
Die Verwirrten und ihre Verführer
Viele der Anwesenden wirken an diesem heißen Nachmittag in Washington allerdings auch verwirrt. Eine ältere Frau, die sich Geraldine Lavell nennt, trägt einen armeegrünen Fliegeroverall und an einem Stab die US-Flagge verkehrt herum. Das ist in den Vereinigten Staaten eigentlich strengstens verboten.
Was sie damit ausdrücken möchte? "Niemals darf man die Nationalflagge auf den Kopf stellen. Ich weiß das. Außer um zu signalisieren, dass man in Lebensgefahr ist", meint sie. Die Nation sei in einer Notsituation. Sie zeigt auf die Reihen der gepanzerten Polizisten vor dem US-Kapitol. "Die stehen falsch herum. Die müssten sich zu uns umdrehen und uns schützen, nicht das Kapitol. Dort sitzen die Verbrecher und die Kriminellen." Sie entschuldigt sich vorab für ihre rüde Ausdrucksweise und sagt dann über die akute Flüchtlingssituation an der Grenze zu Mexiko: "No one gives a damn fuck!"
Ein junger Mann, der seinen Namen auf keinen Fall nennen will, trägt einen toten Waschbären auf dem Kopf. Viele Kamerateams haben sich direkt auf ihn gestürzt. Für ein Foto zieht er den Pelz extra tief ins Gesicht. Nein, er habe sich nicht inspirieren lassen von dem Mann mit dem berühmt gewordenen Büffelkopf vom 6. Januar. "Ich stelle meine Mützen selbst her", sagt er. Dann läuft er weiter herum und redet einen Moment später ein paar Takte mit Geraldine.
Ansonsten bleibt es bei der Demonstration in Washington ruhig. Nur kurz gibt es einen kleinen Aufreger. Polizisten drücken einen Mann zu Boden und bilden sofort einen Kreis. Drumherum filmen sofort Reporter mit ihren Kameras und Smartphones. Ein bärtiger Demonstrant gerät dazwischen, mit einer Tüte Popcorn in der Hand. Immer wieder greift er hinein. So lässt es sich gut unterhalten.
Als das kurze Spektakel vorbei ist, leitet die Polizei den Demonstrationszug gezielt in eine große Umleitung. Eine Konfrontation mit Gegendemonstranten soll vermieden werden. Aus einem Lautsprecher der Gegendemonstration tönt laute Rap-Musik: "Fuck Donald Trump." Ein Polizist, der in der Hitze ins Schwitzen gekommen ist, läuft ein paar Schritte zu einem kleinen Kühltruck an der Pennsylvania-Avenue. Er bestellt sich einen Sahneeisbecher mit Schokoladensoße. "Ich verbrenne hier sonst noch", sagt er. Sonst gibt es an diesem Tag nicht viel zu tun.
Matt Braynard hat sein wichtigstes Ziel erreicht. Er hat jene friedlichen Bilder produziert, die er verwenden kann, um sie in die eigenen Nachrichtenkanäle zu spülen. Er will die Geschichte des 6. Januar umdeuten und ein diffuses Ungerechtigkeitsgefühl im ganzen Land weiter schüren. Bis zu dem Tag, an dem es wieder entladen kann und sei es bei einer Wahl. Ein Mann vor dem Zaun am Kapitol ruft: "Das waren keine Terroristen am 6. Januar, das waren Lebensretter."
- Eigene Recherchen vor Ort
- Interviews mit Anwesenden
- Guardian News: Nancy Pelosi says US Capitol attack like 9/11 but an assault from within (Englisch)
- Webseite von Donald Trump (Englisch)
- Steve Bannon's War Room (Englisch)