Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Comeback einer Großstadt New York zeigt unsere Zukunft nach Corona
Nach 423 Tagen im Shutdown öffnet New York wieder so gut wie alle Bereiche. Das führt zu seltsamen Szenen – und neuen Privilegien für die Geimpften. Ein Vorbild für Deutschland?
In dieser Woche wollte ich eine Auferstehung bezeugen. Der Patient New York City, vor gut einem Jahr von Corona niedergestreckt, konnte seither eine Diagnose nicht mehr abschütteln: Wer auch immer sich berufen fühlte, stellte ihm das baldige Ableben in Aussicht.
Manhattan sei zu eng, zu teuer, zu beklemmend, zu altmodisch, zu marode. So konnte man es ein paar Monate lang überall lesen. In dieser Woche nun wollte die Stadt den Gegenbeweis antreten.
Am Mittwoch wurde nach 423 Tagen des Shutdowns wieder aufgemacht: die Innenräume der Restaurants, die Sportstudios, und die lange Zeit verwaiste Subway rattert nun wieder die Nacht hindurch. Gleichzeitig fiel, nach dem überraschenden Kommando der US-Gesundheitsbehörde, auch die allgemeine Maskenpflicht.
Es sind seltsame Tage in Manhattan, geprägt vor Vorsicht, Mut und Übermut. Sie sind voller Widersprüche. Im Metropolitan Museum etwa ist es fast schon schockierend voll, Abstand fällt schwer. Aber oben an der frischen Luft der Dachterrasse wird peinlichst darauf geachtet, dass ja niemandem die Maske verrutscht.
Manhattan brummt wieder. Die Vorsichtigen sind noch viele – eine Mehrheit auf der Straße trägt weiterhin Maske –, doch das Bild prägen die Erlebnishungrigen. Die Restaurants, die Dachbars sind voll, die Hotels ziehen nach. Manche, die vor einem Jahr Häuser auf dem Land gekauft haben, wollen zurück.
Es regiert die doch längst abgeschriebene Lust an der Stadt. Wir erleben in diesen Tagen das große Comeback New York Citys. Wird hier voreilig die Pandemie für besiegt erklärt oder ist das schon allgemein die Rückkehr der Großstädte im Jahr eins nach Corona?
Man kann sich von den grellen Bildern der Wiederöffnung leicht blenden lassen. Zumindest verdecken sie frische Wunden sowie ein paar altbekannte Probleme. Streifen wir durch das neue alte New York.
Der alte Zauber ist nicht verblasst. Nehmen wir den Madison Square Park, mittendrin, aber gerade weit genug weg vom Touristentrubel Midtowns, dass er entspannt wirkt. Man muss sich schon sehr tief ins Handy vergraben, damit der Blick nicht auf eines der umliegenden Wahrzeichen fällt: Hier das Flatiron-Building, gerade etwas eingerüstet, zur anderen Seite das Empire State und im Osten der fast vergessene Met Life Tower, immerhin auch einmal vier Jahre lang das höchste Gebäude der Welt, plus zwei neue Glastürme. Ein zeitloser Genuss. Die Bänke, die Tische im Park sind jeden Abend voll, ein paar Ältere machen Tai Chi, und bei der Burgerbude Shake Shack gibt es, selten genug in Amerika, auch Bier im Plastikbecher.
Wer seine vollständige Impfung nachweisen kann, bekommt zum Burger gratis Pommes dazu: Vaccination fries, die ich natürlich sofort in Anspruch nehme. Der alte Glanz, mit etwas Pandemie-Update.
In Grand Central, dieser Kathedrale von einem Bahnhof, glänzt es wie eh und je, zudem gibt es nun Impfungen für Spontane, versüßt durch Freitickets für Subway und Regionalverkehr. Auch wenn das Interesse mau ist: Soll es doch noch irgendwie klappen mit der Herdenimmunität, muss man eben dorthin, wo die Leute sind. Hier zeigt New York die mögliche Zukunft unserer Städte.
Ganz New York brummt? Nein, ausgerechnet Midtown Manhattan liegt immer noch brach. Zumindest im Vergleich zum Midtown von früher. Nur anderthalb Blöcke vom Empire State Building beginnt der ungewohnte Leerstand, zu wenig Touristen. Der Broadway beginnt erst wieder im September.
Wenig sichtbar ist der ungeheure Leerstand der Büros. Die Anwälte, Werber, Finanzjongleure sind noch weg. Gerade mal ein Fünftel der Flächen ist wieder belegt. Wer konnte, ist ins Homeoffice auf die Hamptons, ins Hudson Valley oder gleich nach Florida abgerauscht. Die Reichen sind fort, ihre Einkommenssteuer auch. Zurück bleibt ein Krater in New Yorks Haushalt.
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Im Central Park wartet auf den ersten Blick das Bilderbuch-New-York. Auf der East Meadow spielen Mädchen Lacrosse und Softball, Jungs Football und Fußball. Das Gras wuchert am Rand in die Höhe, ist in der Mitte platt. "Man sieht noch genau, wo sie standen", sagt die Krankenschwester Tamara, die hier gerade Mittagspause macht. "Sie" – das waren die Krankenzelte, die im April und Mai vergangenen Jahres das Mount-Sinai-Krankenhaus auf der anderen Straßenseite entlasten sollten.
Für mich war dies eines dieser unvergesslichen Corona-Bilder: das Spitalschiff der US-Marine vor Lady Liberty, die Kühllaster voller Leichen vor dem Elmhurst-Krankenhaus in Queens und die Hospitalzelte im Central Park. Jetzt tobt dort das pralle Leben. Aber es ist eben noch nicht über alles Gras gewachsen.
Fährt man von dort mit dem Leihfahrrad hundertzwanzig Straßenblocks und über gefühlt zweihundertvierzig Schlaglöcher in den Süden, landet man in New Yorks Zukunft. Zumindest erzählt einem das Gernot Wagner, der dort wohnt, arbeitet und überzeugt ist, die Lösung für die Probleme der Stadt vor der eigenen Haustür gefunden zu haben.
Wagner empfängt zum "Vanilla Coffee Protein Smoothie" beim Café ums Eck, dann laufen wir durch sein Viertel. Neunzig Sekunden braucht er bis zu seinem Büro an der NYU, sechzig Sekunden bis zum Boxstudio, in dem er morgens trainiert. Wagner ist Klimaökonom und überzeugt, dass man die Erde nur retten kann, wenn mehr Menschen in den Städten wohnen. (Er hat dazu gerade ein Buch mit dem Titel "Stadt, Land, Klima" veröffentlicht.)
Was kann New York aus Corona für die Zukunft lernen? "Das, was wir hier in der Straße machen", sagt er, wie aus der Pistole geschossen. Wagner spricht in einem Singsang, der sich aus seiner niederösterreichischen Heimat und der langen Zeit an der US-Ostküste speist. Sein Blick verrät, dass er von dem, was er erzählt, überzeugt ist.
Wagner wohnt in der schicken Bleecker Street, mit Frau und Kindern auf 70 Quadratmetern. Lage statt Luft. Mit anderen Anwohnern hat er erreicht, dass abends die Straße für den Autoverkehr gesperrt wird. Wir gehen durch den Block, wo eine Galerie und ein Boxzentrum, eine Abtreibungsklinik und ein katholisches Kulturzentrum Nachbarn sind und irgendwer noch einen Help-yourself-Kühlschrank für Gemüse auf den Bürgersteig gestellt hat. Dazu ein Italiener, eine Bar. "Das ist das ideale Stadtleben", sagt er, alles an einem Ort. Arbeit, Wohnen, Vergnügen.
Er will, dass ganz New York so wird wie sein Wohnviertel in NoHo. Dass Midtown am Boden liegt, ist ihm eigentlich recht. Diese Arbeitsviertel für Pendler gehörten abgeschafft, sagt er. Viele der leeren Büros im Zentrum müssten zu Wohnungen umgebaut werden. Man müsse einfach dort leben, wo man arbeite, dann seien die meisten Probleme der Stadt gelöst, sagt Wagner.
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Doch der Weg ist noch weit. Neuerdings fällt ihm auf, dass immer mehr dicke SUVs aus New Jersey die Straßen in seinem Viertel verstopfen. Doch Wagner bleibt österreichisch-amerikanischer Optimist: In 20 Jahren werden die Autos fort sein aus Manhattan, dann erwarte New York eine neue Blütezeit.
Tatsächlich tut sich etwas. Es gibt immer mehr autofreie Straßenblocks, manche permanent, manche nur in den Abendstunden. Ich bin bei dieser Recherche viel mit diesen E-Fahrrädern gefahren, die neuerdings zum Citibike-Netz gehören. New York hat sich lange gegen die neuen Roller oder allzu viele neue Radwege gesperrt, doch seit Corona geht es voran. Für ein Midtown, wie Wagner es sich vorstellt, und ein autofreies Manhattan fehlt mir die Fantasie. Doch jeder Straßenblock, der nicht den Autos gehört, macht die Metropole des 20. Jahrhunderts gerade moderner und lebenswerter.
Die Städte des 21. Jahrhunderts entstehen anderswo. Ich glaube, New York bleibt einfach New York: zu viel Verkehr, zu viel Macht fürs Geld, zu reich und zu arm, zu glitzernd und zu kaputt und zu sehr durch Hollywood in unser Auge eingebrannt, als dass es langweilig werden könnte.