Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kapitol nach dem Aufruhr Es war alles noch viel schlimmer
Erst jetzt ist das Ausmaß deutlich: Der Aufstand hat das US-Kapitol bis ins Mark erschüttert. Es herrscht Wut auf Politiker, die jetzt als Donald Trumps Erben auftreten.
In Washington mussten erst ein paar Tage vergehen, bis man das ganze Ausmaß der Katastrophe verstehen konnte.
Ich habe in dieser Woche immer wieder Zeit im überfallenen Kapitol verbracht, dort mit vielen gesprochen und immer neue Videos angeschaut, die ihren Weg aus den Nischen des Internet in die Öffentlichkeit fanden. Alles führt zum so simplen wie deprimierenden Schluss: Es war alles noch viel schlimmer.
Der Mob war organisierter, zielgerichteter und besser ausgerüstet, als man tagelang annahm. Er hatte ausdrücklich Mike Pence und Nancy Pelosi im Visier, die Nummer zwei und drei in der Machtfolge der USA.
Sehr leicht hätte es viel mehr Tote geben können. Eine Gruppe stand etwa nur noch Meter vor der Tür zur Senatskammer, als diese noch nicht evakuiert war. Ehre gebührt einem einzelnen schwarzen Polizisten, der die aufgebrachte Menge geschickt von der Eingangstür weglotste. Das ist das eine.
Das andere ist eine Erschütterung, die ich erst diese Woche im Kongress wirklich greifen konnte und auch selbst spürte. Eine amerikanische Kollegin zeigte mir ihre verwackelten Fotos der Eindringlinge in die Kammer des Repräsentantenhauses. Ein Mitarbeiter der Pressestelle berichtete, wie der Mob gegen die Türen des Pressebereichs hämmerte und er Gasmasken an Reporter verteilte. Seine Kollegin sagte, sie könne abends nur noch Feelgood-Filme schauen. Niemand von ihnen ist mir je als zartbesaitet aufgefallen.
Eine Quelle, mit der ich immer mal wieder spreche, um zu verstehen, was im Kongress los ist, war außer sich. Der Mann ist sonst ein nüchterner Typ. Jetzt sagte er: “Allein die Vorstellung, dass diese Arschlöcher dem Mob noch eine Tour gegeben haben…” Das Schimpfwort, das er verwandte, klang noch etwas härter. Es begann mit einem F.
Dieser Satz illustriert das überwältigende Gefühl am besten: Im Kapitol fühlt man sich verraten. Einem Mob ans Messer geliefert, mit tatkräftiger Unterstützung aus den eigenen Reihen.
Es kursieren unterschiedliche Vorwürfe. Einige republikanische Abgeordnete sollen gar am Vortag spätere Randalierer herumgeführt haben – die meinte der Kontaktmann mit dem F-Wort –, mehrere Polizisten sollen dem Mob freundlich die Richtung gewiesen haben. Vieles ist nicht bestätigt, so viel aber doch eindeutig: Republikaner haben mit martialischen Worten den Mob befeuert und sich auch im Moment der Attacke so verhalten, dass sich manche ein zweites Mal verraten fühlen.
Erst jetzt ahne ich, welche Traumata der 6. Januar noch hervorrufen wird.
Die linke Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez berichtete, wie sie selbst im gesicherten Raum, in den man viele Abgeordnete führte, Angst um ihr Leben gehabt hätte – weil sie fürchtete, dass Sympathisanten der Randalierer im selben Raum ihren Aufenthaltsort preisgeben könnten. Sie sprach auch von “verräterischen Taten durch die Polizei”. Ihre enge Verbündete Ayanna Presley sagte, sie habe den Sicherheitsraum wieder verlassen, als sie gesehen habe, dass dort die “Rassisten und Maskengegner, die den Mob erst aufgewiegelt haben” waren.
Die Demokratinnen nannten keine Namen, meinten aber unter anderem zwei Abgeordnete, die erst in der vergangenen Woche vereidigt wurden: Marjorie Taylor Greene aus Georgia, die Wahlkampf mit QAnon-Verschwörungstheorien machte und sich im Sicherheitsraum weigerte, eine Maske zu tragen. Oder Lauren Boebert aus Colorado, die darauf besteht, verbotenerweise mit Waffe ins Plenum zu kommen und während des Sturms getwittert hatte, dass Pelosi jetzt die Kammer verlassen habe – was als Signal an die gewaltbereiten Trupps verstanden worden ist.
Sie sind nach Washington gekommen, um Regeln zu brechen. So wie ihr Vorbild Donald Trump.
Extremisten, Waffen, und dann noch Corona – das Vertrauen im Kapitol ist bis ins Mark erschüttert. Pelosi ließ an den Türen zur Kammer nun Metalldetektoren errichten. Weil sich manche Republikaner dran vorbeiquetschten, soll es künftig Strafen hageln: 5.000 Dollar beim ersten Vergehen. Ähnlich, nur günstiger, sollen Maskenverweigerer belangt werden. Es sind nur Republikaner, die sich diesen Regeln widersetzen.
Auch ich war bei meinen Besuchen nach dem Überfall erschüttert, wie ich das Kapitol vorfand. Ich mag diesen erhabenen Marmorbau, der über Washington thront. Für einen ausländischen Korrespondenten ist es ein wunderbarer Arbeitsort. Wer sich etwas geschickt anstellt, bekommt hier Zugang zur Politik, den es im Weißen Haus so nicht gibt. Man kann die Politiker sprechen, auch bei historischen Momenten wie einem Impeachment einen Platz im Raum ergattern.
Es tat weh, die zerborstenen Scheiben an der Rotunde zu sehen, die Sperrholzplatten, die Fenster ersetzen, den Müll, den der Mob auf den Fluren des Senats zurückließ. Und dann wurde es surreal: In dieser Woche rückten immer mehr Nationalgardisten ein, schon zum Impeachment-Tag am Mittwoch war das Kapitol halb Kongress, halb Kaserne.
Ich konnte kaum fassen, was ich in den unterirdischen Gängen sah. Links und rechts Hunderte Soldaten auf dem Marmorboden, die Schnellfeuerwaffen an Wände und Säulen gelehnt, kein Feldbett, keine Decken. Die Verteidiger des Kapitols: schwer bewaffnet, schlecht versorgt und eine Woche zu spät vor Ort.
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