Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.US-Wahl Den wahren Biden sieht man erst, wenn die Kameras aus sind
Joe Biden prägen bis heute schwere Schicksalsschläge. Sein Umgang damit ist vielleicht seine größte Stärke im Wahlkampf. Donald Trump weiß, wo er ihn treffen muss.
Guten Tag aus Wilmington,
wo Joe Biden vor wenigen Stunden seine große Rede als nun offiziell nominierter Präsidentschaftskandidat gehalten hat. War es das auch: eine große Rede? Sie war leidenschaftlich, zeigte klare Kontraste zu Donald Trump auf (mehr dazu hier) und kam ohne diese typischen Verhaspler aus, bei denen man die Augen verdreht und denkt: Mensch, Biden!
Zu den Begriffen, die aus dem Deutschen und dem Jiddischen die Sprache in Amerika bereichern, gehört das Wort mensch. Mensch heißt nicht Mensch, sondern ein guter Mensch, ein anständiger Kerl, eine herzensgute Frau, ein Ehrenmann. Über so jemanden sagt man: He’s a real mensch. Biden ist so jemand. Mensch Biden.
Ich schildere Ihnen heute, warum ich glaube, dass ihn viele Menschen, auch in Deutschland, unterschätzen.
Um Bidens Stärken zu verstehen, muss man ihn eigentlich persönlich erleben. Ich habe mit ihm unter der Augustsonne Iowas geschwitzt und bin neben ihm durch den Schnee in New Hampshire gestapft, alles vor Corona, und immer wieder hat mich etwas beeindruckt, was man nicht sieht, wenn er eine Rede hält. Er hat eine wahre Gabe, eine emotionale Verbindung zu seinen Anhängern herzustellen. Man sieht sie erst, wenn die Mikrofone und Kameras schon wieder ausgeschaltet sind: Dann versammeln sich die Leute um den alten Mann und es sprudelt förmlich aus ihnen raus.
In Iowa berichtete ein Mann um die Sechzig Biden schon im Moment des Handschlags: Sein Sohn sei gestorben, die Tochter aus der Armee ausgeschieden und leide seither unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Biden legt in diesen Momenten seine Hände auf die Schulter und sagt: Ich weiß, wie sich das anfühlt. Doch irgendwann geht es einem wieder besser. Und Joseph Robinette Biden Jr. weiß genau, wovon er spricht.
Man erahnt es etwa, wenn man in seiner Heimatstadt Wilmington in Delaware durch das hohe Gras des Friedhofs der katholischen Kirche St. Joseph on the Brandywine schreitet. Vorbei an vielen Grabsteinen mit deutschen und irischen Namen geht es bis vors Gebüsch, wo das Grab seines Vater Joseph Robinette Biden Senior und seiner Mutter liegt, daneben der Grabstein seiner ersten Ehefrau und Tochter.
Einen Monat nachdem Biden im November 1972 im Alter von 29 Jahren in den US-Senat gewählt wurde, verliert er seine Ehefrau und dreizehn Monate alte Tochter bei einem Autounfall. Den Amtseid legt er am Krankenbett seiner beiden verletzten Söhne ab. Die kommenden Jahre pendelt er jeden Tag zwischen Kongress und Wilmington, um den Söhnen das Frühstück vorzubereiten und sie abends ins Bett zu bringen.
Der ältere Sohn, Beau, folgt ihm später in Wilmington in die Politik. Der jüngere, Hunter, sucht lange seinen Weg und lässt sich seinen Nachnamen durch dubiose Jobs in der Ukraine versilbern.
Spaziert man hundert Meter weiter, folgt der nächste Grabstein. Die Inschrift: Joseph "Beau" Robinette Biden III.: Vater, Ehemann, Bruder, Sohn. Dass Bidens Sohn Beau 2015 an einem Hirntumor starb, ist immer noch eine frische Wunde. Auch als er auf dem Parteitag über Beau spricht, muss er Tränen unterdrücken.
Biden hat seine Schicksalsschläge zu seiner politischen Kernbotschaft gemacht: Ich weiß, wie dreckig es Euch gehen kann – aber ich verspreche Euch, es geht wieder aufwärts. Mit Euch, mit uns, mit der Nation. Mitgefühl, Trost, Zuspruch. Trump bezeichnet Biden tagein, tagaus als korrupt und senil. Als der Präsident vergangene Woche seinen Bruder verlor, kondolierte der Demokrat mit warmen Worten. Trump hatte keine Antwort darauf.
Ich schreibe Ihnen das alles, weil ich es nicht nur interessant, sondern auch für politisch bedeutsam finde. Biden stellt über Anstand und Empathie emotionale Bindungen her, die ihn weniger anfällig für giftige Attacken machen als die letzte Trump-Gegnerin Hillary Clinton.
Das Leben in Amerika ist ja ohnehin etwas härter: Kriegseinsätze, die bei den Soldaten jeder Generation tiefe Narben hinterlassen, ein Sozialstaat, der viele nur ein paar Wochen lang auffängt, Tornados und Waffengewalt. Und vielleicht war es seit Jahrzehnten nicht mehr so hart wie jetzt. Bald hunderttausende Tote, Millionen mit nackter Existenzangst, und Ich-weiß-nicht-wie-viele mit einem Knacks durch politischen Dauerkrieg, Pandemie, Isolation. Da ist jemand, der trösten kann und Mut zuspricht, ein gefragter Mann.
Biden spricht auch anders als Clinton. Und damit zu seinen Patzern und Versprechern. Verheddert sich Biden etwas oft? Natürlich: Er hat schon als Junge gestottert. Gehen Witzchen daneben? Regelmäßig. Schämt man sich für Biden manchmal fremd? Absolut. Vergreift er sich mal im Ton, wenn er kritisiert wird? Damals wie heute: Ja. Nur glaube ich, dass das seine Wähler gar nicht so stört.
Interessieren Sie sich für die US-Wahl? Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt über seine Arbeit im Weißen Haus und seine Eindrücke aus den USA unter Donald Trump einen Newsletter. die dann einmal pro Woche in Ihrem Postfach landet.
Was wichtiger ist: Biden, der seit knapp 50 Jahren Politik macht, spricht nicht abgehoben. Er muss noch klarer werden, einen wirklich griffigen Slogan finden, aber man versteht ihn als Politiker und als Mensch. Und den Kontrast zu Trump haben die Amerikaner sowieso begriffen. Der Präsident mag dich, wenn du ihn magst. Biden mag dich auch, wenn du ihn nicht magst. He’s a real mensch.
Die Frage ist, wie wichtig das bis zum Wahltag bleibt. Trump weiß, dass er das Anständige an Biden in Zweifel ziehen muss und wird den Vater versuchen mittels Sohn Hunter, den mit den Ukraine-Jobs, zu beschädigen. Kommende Woche auf dem Parteitag der Republikaner wird man einiges dazu hören.
Wählen die Amerikaner einen neuen Präsidenten, suchen sie oft das Gegenteil vom Amtsinhaber. So war es zuletzt 2008, als auf den gescheiterten Feldherrn George W. Bush der Kandidat von Wandel und Irak-Abzug folgte, Barack Obama, und 2016, als auf den ersten schwarzen Präsidenten jemand folgte, der angab, sich um die vergessenen Weißen kümmern zu wollen. Und wenn es nun um Fragen von Anstand und Mitgefühl geht, dann ist Biden wirklich: das Gegenteil von Trump.