Donald Trump gegen Joe Biden Diese Wahl läuft anders ab als Sie denken
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Bei der Präsidentschaftswahl in den USA werden so viele Bürger per Brief abstimmen wie noch nie.
In Washington geht in diesen Tagen eine Gewissheit verloren. Man kann nicht mehr damit rechnen, dass die Präsidentschaftswahl am 3. November über die Bühne geht.
Nicht etwa, weil Donald Trump sie plötzlich doch verschieben könnte. Sondern weil die Vorstellung, die wir vom Ablauf einer US-Wahl haben, nicht mehr zur neuen Realität passt. Es gibt ein Szenario, über das ich im Privaten mit Kollegen schon lange spreche, das nun aber so wahrscheinlich geworden ist, dass es auch in die Öffentlichkeit drängt: Es könnte am Wahlabend des 3. November kein Ergebnis geben. Die Auszählungen und das Ringen um die Frage, welche Stimmen zählen und welche nicht, könnte sich nicht nur Tage, sondern Wochen hinziehen.
Stell dir vor, es ist Wahl und keiner gewinnt. Nach dem Wahlkampf würde dann der Kampf um die Wahl beginnen. Es ist alles andere als sicher, dass es so kommt, aber es ist nicht mehr unwahrscheinlich.
Es wäre der Gipfel einer Wahl, wie es sie noch nie gab. Mit der Absage der bombastischen Nominierungsparteitage fällt ein weiterer Teil des Wahlkampfzirkusses ins Wasser. Die Demokraten haben ihre Veranstaltung vor Ort erst Schritt für Schritt verkleinert und nun komplett abgesagt – Joe Biden nimmt die Nominierung in seiner Heimatstadt in Delaware an. Bei den Republikanern lief der Prozess chaotischer. Weil Trump die Corona-Auflagen in North Carolina zu streng waren, hievte man einen Teil der Sause nach Florida, nur um ihn wegen der Corona-Lage vor Ort in vorletzter Minute dann wieder abzusagen. In letzter Minute sucht Trump nun die fernsehtaugliche Kulisse für seine Nominierungsrede. Im Gespräch ist etwa das Bürgerkriegsschlachtfeld in Gettysburg – es gäbe unpassendere Bühnen in der gegenwärtigen Stimmung Amerikas.
Der Wahlkampf 2020 findet also ohne die Massen statt, ohne den gemeinschaftlich gebrüllten Jubel und Zorn und nun also vielleicht sogar ohne Wahlnacht, wie wir sie kennen. Das hat vor allem mit der Briefwahl zu tun.
Donald Trump hat mit der Attacke auf die Art der Stimmabgabe wieder ganze Arbeit geleistet – schon fragt man sich weltweit, was denn nun der Unterschied sei zwischen der Briefwahlvariante "absentee voting", die Trump so lobt, und dem "mail-in voting", das Trump verdammt, weil es dem Wahlbetrug Tür und Tor öffne.
Es hat grob gesagt damit zu tun, wie viel Aufwand man betreiben muss, um per Brief abstimmen zu können. (In manchen Bundesstaaten muss man das beantragen, hier und da sogar unter Angabe genauer Gründe, andere schicken die Unterlagen unaufgefordert an alle registrierten Wähler heraus.) Doch das eine ist nicht unsicherer als das andere. Trumps Argument ist ohnehin nur eine Nebelkerze: Für Wahlbetrug, wie Trump ihn generell der Briefwahl anheften will, gibt es keine Belege.
Seit Jahren wärmt Trump das Thema auf, wenn es ihm passt. Jetzt, da er hinten liegt und Corona die Wahl umkrempeln wird, passt es hervorragend. Nachdem Hillary Clinton 2016 drei Millionen Stimmen mehr als er holte, unkte Trump von drei bis fünf Millionen illegal abgegebener Stimmen, setzte im Weißen Haus eigens eine Kommission ein, die dem Thema auf den Grund gehen sollte, das auch tat – und nichts fand.
Näher an den Kern der Sache führen uns Aussagen von Experten, nach denen es demokratische Wähler in den Städten sind, die öfter von der Briefwahl Gebrauch machen. Der passende O-Ton Trump zu den Forderungen nach höherer Wahlbeteiligung: “Wenn man da zustimmte, würde in diesem Lande nie wieder ein Republikaner gewählt.”
Und doch ist es die Briefwahl, die die Abstimmung im November ins Chaos stürzen könnte, nur anders als von Trump insinuiert. Denn, so seltsam es in deutschen Ohren klingen mag, Amerika muss Briefwahl erst noch lernen.
Zwar führen fünf der fünfzig Bundesstaaten ihre Abstimmungen komplett per Brief durch, doch zahlreiche andere haben wenig bis keinerlei Erfahrungen damit gemacht – und nun sorgt Corona dafür, dass eine nie für möglich gehaltene Masse an Wählern ihre Stimme lieber so abgibt. Gewissermaßen muss jeder Staat für sich zwei neuartige Wahlen meistern – die Vor-Ort-Abstimmung unter Corona-Bedingungen, also mit Abstand, Sicherheit und noch längeren Schlangen, als man sie ohnehin schon kennt. Und dann die Massenbriefwahl.
Interessieren Sie sich für die US-Wahl? Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt über seine Arbeit im Weißen Haus und seine Eindrücke aus den USA unter Donald Trump einen Newsletter. die dann einmal pro Woche direkt in Ihrem Postfach landet.
Die Vorwahlen der vergangenen Monate lassen Schlimmes erahnen: In Wisconsins Hauptstadt Milwaukee machte man im April nach einem bis in den Wahlmorgen dauernden Rechtsstreit nur fünf der 180 Wahllokale auf, vor denen sich mitten in der ersten Viruswelle Hunderte Meter lange Schlangen bildeten. Im Juni standen in Georgia Wähler bis nach Mitternacht an, und wer reinkam, konnte auf ausgefallene Wahlmaschinen treffen. Tausende, die Briefwahl beantragt hatten, bekamen keine Unterlagen zugeschickt.
Und im 12. Wahlbezirk von New York wurde die Siegerin der Vorwahl vom 23. Juni nun mit sechs Wochen Verspätung gekürt – so lange zählte man die Briefwahlstimmen aus beziehungsweise nicht aus: 13.000 Stimmen wurden gar nicht erst berücksichtigt. Die Post kam mit den bereits freigemachten Briefumschlägen nicht klar – und verzögerte so die Zustellung über den Wahlabend hinaus.
Deshalb regiert in Washington schon jetzt der Zweifel: Kann die Post, selbst nah am Bankrott, überhaupt eine Massenbriefwahl stemmen? Jetzt mit einem Trump-Kumpan an der Spitze, der die einst stolze Institution – je nach Sichtweise – gesund- oder totsparen soll. Jedenfalls verfügte er neue Regeln, durch die die Briefe jetzt einige Tage länger unterwegs sind.
Bekommen die Bundesstaaten die Bereitstellung der Unterlagen gestemmt – und welche wollen das nach Trumps politischem Druck überhaupt? Wie kommen die Wahllokale, wo Wähler einst direkt auf dem Wahlcomputer abstimmten, nun mit den Blättern zurecht, auf denen vom Präsidenten bis hinab zur Wahl des örtlichen Schulaufsehers abgestimmt wird?
Deshalb ist es wahrscheinlich, dass die Auszählung der Briefwahlstimmen an vielen Orten weit über die Wahlnacht hinausgehen wird. So kann sich die Verkündung des Resultats in den knappen, wahlentscheidenden Bundesstaaten und damit das Gesamtergebnis lange hinauszögern. Oder es kann ein Ergebnis geben, das der Unterlegene unter Verweis auf ungezählte Stimmen nicht akzeptiert. Die Szenarien werden von Politiknerds in Washington schon eifrig in Simulationen durchgespielt. Nur bei einem Erdrutschsieg für einen der beiden Herren könnte all das keine Rolle spielen.
Was ist, wenn die Demokraten wirklich stärker zur Briefwahl greifen? Dann könnte am Wahlabend in einem umkämpften Bundesstaat Trump wie der Gewinner aussehen, aber die erst nach Tagen kalkulierten Briefwahlstimmen könnten Biden wieder nach vorn spülen – sofern sie denn überhaupt gezählt werden. Ein Zufall, dass Trumps neueste Wendung lautet, dass ein Ergebnis in der Wahlnacht vorliegen müsse?
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Stellen Sie sich also bitte schon einmal darauf ein, dass es keine Wahl wie 2016 wird, wo der Sieger in der amerikanischen Nacht gekürt wird und in Deutschland pünktlich zum Frühstück feststeht, wer die Geschicke der USA die kommenden vier Jahre lenken wird.
Gehen wir eher von einer Wahl wie im Jahr 2000 aus, mit einer wochenlangen Hängepartie, mit Nach- und Neuauszählungen, mit politischem Druck, Tricks und Anfechtungen, die Zweifel und Wut der Wähler befeuern.
Eigentlich bräuchte es für die Corona-Briefwahl Geduld, doch die scheint mir die knappste, womöglich schon erschöpfte Ressource in einer Zeit, die atemlos ist, in einem Land, das momentan wie ein einziges Nervenbündel wirkt, und in einer Welt, die keine dringendere Frage zu kennen scheint, als ob Donald Trump nun weiter im Amt bleibt oder nicht.
Weiter spekulieren will ich heute nicht. Es sind noch 87 Tage bis zum 3. November.