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Gerhard Spörl: Dreimal scharf nachgedacht, wieder was verstanden


Meinung
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Helden des Alltags
Am Anfang war Luca

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

23.12.2019Lesedauer: 5 Min.
Heiße Lava ergießt sich ins Meer: Vor Milliarden Jahren war die Erde erst eine Gluthölle, dann ein Ozean. Die Urform allen Lebens entstand in Dunkelheit, Gas und Hitze – Luca. (Symbolfoto)Vergrößern des Bildes
Heiße Lava ergießt sich ins Meer: Vor Milliarden Jahren war die Erde erst eine Gluthölle, dann ein Ozean. Die Urform allen Lebens entstand in Dunkelheit, Gas und Hitze – Luca. (Symbolfoto) (Quelle: imago-images-bilder)

Was haben unser ältester Vorfahre, ein Bonner Richter und ein bulgarischer Wissenschaftler gemeinsam? Sie helfen uns, unsere Zeit zu verstehen.

Luca ist kein Mensch, aber ohne Luca gäbe es uns Menschen nicht. Luca war da, als noch keiner von uns da war. Luca ist unser aller Vorfahr, unser Urahn. Luca ist eine Abkürzung und zwar für "Last Universal Common Ancestor" – für den letzten universellen unserer gemeinsamen Vorläufer. Auf diesen Namen hat ihn der Mikrobiologe Carl Wiese in den Sechzigerjahren getauft.

Lucas Geschichte ist eine Menschheitsgeschichte mit biblischen Zügen. Es begab sich aber zu der Zeit, dass sich die Erde langsam abkühlte, nachdem sie von einem Himmelskörper aus dem Sonnensystem getroffen worden war und sich daraufhin in eine glühende Hölle verwandelte. Nun war sie ein Ozean und darin bildeten sich Schlote aus heißem Wasser und Gasen, die von einem Netzwerk winziger Poren durchzogen waren. "In Milliarden solcher Poren, in ewiger Dunkelheit und Hitze, entstand und existierte Luca. Es war also kein Individuum. Es war eine Existenzform im Übergang zum Leben," steht in der "Zeit". Das alles geschah vor 4,2 Milliarden Jahren.

Diese biblische Entstehungsgeschichte der Menschheit erzählen uns Wissenschaftler. Am Anfang war Luca, dann entstanden vor 3,4 Milliarden Jahren echte Bakterien und Urbakterien mit schützenden Zellwänden. Ab da konnte die Evolution einsetzen, die wir seit Charles Darwin kennen.

Natürlich stellt sich dank Luca die Frage, ob sich unser Leben einem blinden Zufall verdankt oder durch ein Naturgesetz verursacht wurde. Weder noch, sagt der Biologe William Martin, der in Düsseldorf lehrt: "Leben entsteht, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet." Und er fügt hinzu: "Es ist immer sterblich."

Gelobt sei Luca, der die Gelegenheit für unser Leben nutzte. Und schade, dass Leben und Sterben unweigerlich eins sind.

Ein Richter, der etwas bewegt

Mein zweiter Alltagsheld ist ein Richter, der in Bonn einer Strafkammer vorsitzt, die über die Cum-Ex-Geschäfte verhandelt. Dabei handelt es sich um Deals mit Aktien, die den Zweck verfolgten, Steuern vom Staat zurückzuverlangen, die nie gezahlt worden waren. An die zehn Milliarden Euro haben Aktienhändler, Juristen, Banken auf diese Weise abgegriffen. Eine informelle kriminelle Vereinigung, könnte man sagen, wird auch gesagt, aber sicherheitshalber nur hinter vorgehaltener Hand.

Unser Richter heißt Robert Zickler und an ihm gefällt mir, dass er sich im Zusammenhang mit Banken verbat, dass ein Zeuge verschwenderisch mit dem Adjektiv "renommiert" umging. Renommierte Bankhäuser plündern nicht den Staat oder leisten dazu Beihilfe oder verdienen vielleicht nur daran, ohne selbst zu plündern, das war die Botschaft. Wo ein Richter recht hat, hat er recht.

Damit brachte Zickler tatsächlich eine Bank zum Nachdenken, für die das Adjektiv "renommiert" im Übermaß verwendet werden konnte und wurde. Die private Hamburger Warburg Bank, die angeblich 62,5 Milliarden Euro an Kundenvermögen verwaltet, entschloss sich dazu, sämtliche Gewinne, die aus solchen Cum-Ex-Geschäften stammten, zurückzugeben. Interessant daran ist, dass kein Angestellter der Warburg Bank in Bonn angeklagt ist, was eben aber nicht ausschließt, dass die Bank Nutzen aus solchen Deals gezogen hat.

Unter Richter Zickler wird zunächst darüber verhandelt, ob die Aktiengeschäfte illegal waren oder lediglich ein Schlupfloch im Steuerrecht nutzten. Der Richter ließ erkennen, dass der kollektive Griff in die Staatskasse nicht in Ordnung gewesen sein kann. Versteht sich ja fast von selbst.

Ein Wissenschaftler, der das politische Gebaren in Polen und Ungarn erklärt

Unser dritter Alltagsheld kommt aus Bulgarien, schreibt Bücher, die nun auch in Deutschland gelesen werden. Er heißt Ivan Krastev, ist 54 Jahre alt und erklärt die Entwicklung in Osteuropa seit 1989 so plausibel und präzise wie kein anderer Wissenschaftler. Für seine Erklärung verwendet er zwei Begriffe aus dem Alltag: Nachahmung und Normalität.

Als die Sowjetunion zerbrach, hatten alle osteuropäischen Reformstaaten nur ein Ziel vor Augen: so zu werden wie der Westen. Demokratie und Marktwirtschaft sollten den Wohlstand erbringen, den der Kommunismus mit seiner Plan- und Kommandowirtschaft nicht erbracht hatte. Sie wollten den Westen nachahmen, damit es ihnen irgendwann auch so gut ergehen würde. Der Westen hatte gesiegt. Der Osten verloren. Wer siegt, hat recht.

Die Nachahmungsperiode hielt unterschiedlich lange an. In Russland brachte sie nach Michail Gorbatschow erst Boris Jelzin und schließlich Wladimir Putin an die Macht, der die Amerikanisierung stoppte. Wie bekannt ist, hält er den Zerfall des Imperiums für eine geopolitische Katastrophe, die er so weit wie möglich rückgängig macht.

Der Nachahmung liegt ein Gefälle zugrunde. Das Original ist immer schon weiter und neigt zur Arroganz. Es schaut herab auf das Gewusel der Nachahmenden, denen es an Tempo und Konsequenz fehlt. Und der Nachahmer merkt, wie schwer ihm das Aufholen fällt und dass es länger dauert als im Überschwang gedacht. Bald merkt er auch, dass das siegreiche Original Züge an sich hat, die ihm missfallen und die er nicht für möglich gehalten hätte, zum Beispiel die Finanzkrise vor mehr als zehn Jahren und die Kluft zwischen Arm und Reich, die größer anstatt kleiner wird.

In den Zeiten des Kommunismus war Normalität ein utopisches Wort: Normalität herrschte im Westen. Diese Normalität wollten die Reformer im Osten. Normalität war ein anderes Wort für die Freiheit, zu tun und zu tun lassen, was man tun und lassen möchte.

Ungarn und Polen zeigen: Es ist vorbei mit der Nachahmung

Ungarn und Polen sind die beiden Länder, die Konsequenzen aus ihren Erfahrungen gezogen haben. Auch wenn sie der EU und der Nato angehören, haben ihre Regierungen die liberale Demokratie in eine autoritäre Richtung gewendet und machen den anderen Europäern, besonders den Deutschen, unmissverständlich klar, dass sie sich künftig nichts mehr vorschreiben lassen – dass es mit der Nachahmung vorbei ist.

Die neue Normalität in beiden Ländern ist der Nationalismus. Er ist auch die Mauer, die sie gegen die EU errichten.


Warum ist das so? Krastev erklärt die Gründe: Ungarn und Polen sind kleine Länder mit großem Aderlass. Nach '89 wollten viele Ungarn und Polen nicht erst abwarten, bis ihre Länder gegenüber dem Westen aufholen. Sie gingen gleich rüber, ließen sich nieder und weil sie Mut und Selbstbewusstsein besaßen und gut ausgebildet waren oder die Ausbildung schnell nachholten, setzten sie sich im Westen erfolgreich fest.

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Wenn kleine Länder ein Viertel ihrer Bevölkerung verlieren, haben sie ein gravierendes Problem. Fast eine ganze Generation fehlt. Die Länder reagieren mit einer Verschiebung. Dahinter steckt ein psychologisches Motiv, sagt Ivan Krastev. Aus dem demografischen Problem machen sie ein nationales: Sie werden xenophobisch, definieren Feinde – wie den Mäzen George Soros – als die großen Verderber der Nation. Sie wehren sich nicht nur gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, sondern werten es als Zeichen moralischer Dekadenz, dass der Westen Flüchtlinge willkommen hieß.

Die neue Normalität ist der Nationalismus, nicht mehr die Freiheit

So kommt es, dass Ungarn wie Polen sich dem Westen mittlerweile überlegen fühlen. So kommt es, dass die neue Normalität der Nationalismus ist und nicht mehr die Freiheit. So kommt es, dass Demokratie und Rechtsstaat von den Regierungen usurpiert werden. So kommt es, dass der Osten vom Westen nichts mehr lernen will.

Unsere drei Alltagshelden kommen aus drei verschiedenen Sphären. Luca zeigt uns, wie zufällig Leben entsteht und sich dann systematisch entwickelt. Unser Richter lehrt uns die Geradlinigkeit des Rechtsstaates, worin ein unschlagbarer Vorteil der liberalen Demokratie besteht. Und Ivan Krastev erklärt uns, warum sie trotzdem an Überzeugungskraft verloren hat – nicht zufällig, aber hoffentlich auch nicht auf Dauer.

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