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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Islamisten-Krieg in Afghanistan Das Blutbad war erst der Anfang
Afghanistan droht nach dem Abzug des Westens wieder zur Keimzelle des Terrors zu werden. Die Anschläge in Kabul zeigen: Die Macht der Taliban ist nicht gefestigt, ein Krieg zwischen Islamisten ist möglich.
Ein Blutbad. Anders lassen sich die schrecklichen Bilder aus Kabul nicht beschreiben. Islamisten lassen vor dem Flughafen in Kabul Sprengsätze detonieren, schießen danach wahllos auf Zivilisten, westliche Soldaten und afghanische Spezialeinheiten. Am Ende liegen viele Menschen leblos in dem Wassergraben, in dem sie tagelang auf dem überfüllten Platz vor dem Tor auf Rettung vor den Taliban gewartet hatten. Unter den mindestens 72 toten Zivilisten sind viele Frauen und Kinder, auch 13 US-Soldaten starben.
Für den Westen war der Angriff wie eine schmerzhafte Erinnerung an ein lange verdrängtes Problem. Nach den Bombenanschlägen ist der Schrecken des Terrors zurück auf der internationalen Bühne. Eigentlich war er nie ganz besiegt, versteckte sich im Untergrund, wartete auf seine Chance. Für die Terroristen war die mediale Aufmerksamkeit am Flughafen Kabul eine seltene Gelegenheit.
Auch über die Zukunft Afghanistans legt sich nach dem Abzug der westlichen Allianz ein noch düsterer Schatten. Es droht ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Islamisten untereinander und zwischen Islamisten und den Überresten der afghanischen Armee. Der Westen flieht nach 20 Jahren aus einem Land, das nun wieder im Chaos zu versinken droht.
Der Bombenanschlag liefert einen Ausblick – auf die kommenden Jahre in Taliban-Land.
Bekenntnis der Flughafenbomber
Es dauerte nicht lang, da reklamierte der sogenannte "Islamische Staat" die Anschläge für sich. Mittels des als Nachrichtenagentur getarnten Propagandakanals Amaq verbreitete das Terrornetzwerk wenige Stunden nach den Explosionen ein Bekennerschreiben und ein Foto des mutmaßlichen Attentäters, dem sie den Namen Abdul Rahman al-Lowgari zuschrieben.
Beim "Islamischen Staat in der Provinz Khorasan" (ISKP) in Afghanistan handelt es sich um einen selbst erklärten Arm des Terrornetzwerks, das Krieg in Syrien und im Irak führte. Gegründet von Kämpfern im Nachbarland Pakistan speiste sich das Terrorpersonal zunächst vor allem aus abtrünnigen Talibankommandeuren und ihren Untergebenen.
Strukturell und ideologisch ähnelt der IS in Afghanistan eher der Al-Kaida als den Taliban. Die Terrormiliz IS folgt der salafistischen Richtung des Islam, die Taliban dagegen zum Beispiel der konservativen Deobandi-Schule. Der ISKP strebt ein Kalifat an, das sich von Südasien bis nach Zentralasien erstreckt. Diese Region wird als "Khorasan" bezeichnet.
Der ISKP konnte in Afghanistan vor allem in den nordöstlichen Provinzen Nangarhar und Kunar Fuß fassen. Nach Angaben von UN-Experten baute die Gruppe auch Schläferzellen in anderen Teilen des Landes, darunter Kabul, sowie in Pakistan auf. Die jüngsten Schätzungen zur Zahl der Kämpfer des IS-Ablegers schwanken zwischen 500 und mehreren Tausend, wie aus einem Bericht des UN-Sicherheitsrats vom Juli hervorgeht.
Spur blutiger Anschläge
Dem ISKP werden einige der blutigsten Anschläge der vergangenen Jahre in Afghanistan und Pakistan zur Last gelegt. Dabei wurden Zivilisten in Moscheen, Krankenhäusern und an anderen öffentlichen Orten getötet. Die sunnitischen Extremisten nehmen vor allem Muslime ins Visier, die sie als "Ketzer" betrachten, insbesondere Schiiten.
Im August 2019 bekannten sie sich zu einem Angriff auf Schiiten bei einer Hochzeit in Kabul, bei dem 91 Menschen getötet wurden. Die Gruppe wird auch hinter einem Anschlag im Mai 2020 auf eine Entbindungsstation in der afghanischen Hauptstadt vermutet, bei dem 25 Menschen getötet wurden, unter ihnen Neugeborene, Mütter und Krankenschwestern.
Kämpfer des IS-Ablegers verübten außerdem regelmäßig Massaker an Dorfbewohnern. Der Gruppe gelang es aber nicht, größere Gebiete in Afghanistan unter ihre Kontrolle zu bringen. Nach Einschätzung der UNO und der USA konzentrieren sie sich weitgehend darauf, mithilfe von Schläferzellen große Anschläge in Städten zu verüben.
Viele Motive für den Angriff auf den Flughafen
Im Prinzip ist es keine Überraschung, dass Kämpfer der ISKP nun auch den Flughafen in Kabul angegriffen haben. Alle Geheimdienste und Regierungen der westlichen Allianz in Afghanistan wussten von einer konkreten Gefahrenlage.
Für den Angriff hatten die Islamisten mehrere Motive:
- Rache: Nachdem der IS in Syrien und im Irak zurückgedrängt wurde, nahmen die USA auch den ISKP ins Visier. Über Jahre wurden immer wieder gezielt Anführer der Islamisten mit Drohnen- und Luftangriffen ausgeschaltet. Für den ISKP gab es lange kaum Möglichkeiten, Vergeltung zu suchen.
- Heiliger Krieg: Bei den Anschlägen in Kabul haben die Islamisten auch Leben in den eigenen Reihen geopfert, um Soldaten anzugreifen, die auf der Flucht sind. Ideologisch sieht sich der ISKP im Kampf für seine Religion gegen die Kreuzfahrer. Sie empfinden das Töten der westlichen Soldaten als heilige Pflicht – das steht für sie über dem Wert von Menschenleben.
- Zeichen der Schwäche: Die Hochzeit des IS ist vorbei, fast überall befand er sich global auf dem Rückzug. Auch in Afghanistan ist der ISKP personell nicht gut aufgestellt. Derartige Angriffe sind auch Propaganda, um Gesinnungsgenossen rekrutieren zu können. Für sie waren die abziehenden westlichen Truppen eine Chance, sich international ins Rampenlicht zu stellen. Das bringt neues Geld, Waffen und neue Kämpfer.
- Machtkampf mit den Taliban: Der Westen hinterlässt in Afghanistan ein Machtvakuum, welches die Taliban füllen möchten. Sie sprechen bereits mit den Resten der afghanischen Armee über die Zukunft des Landes. Der ISKP blieb bislang außen vor und man will die Macht nicht kampflos den rivalisierenden Taliban überlassen.
Kämpfe zwischen radikalen Islamisten
Das Verhältnis zwischen dem sogenannten "Islamischen Staat" und den Taliban in Afghanistan ist äußerst kompliziert. Eigentlich sind es rivalisierende Islamistengruppen mit unterschiedlicher Ideologie, die in der Vergangenheit gegeneinander kämpften.
Diese Kämpfe halten schon Jahre an und sind äußerst blutig. Ein Höhepunkt war sicherlich, als 2017 ISKP-Kämpfer die Bergfestung Tora-Bora einnahmen, in der sich früher auch Osama bin Laden vor den US-Luftangriffen versteckte.
Auch am Donnerstag sollen am Kabuler Flughafen ISKP-Kämpfer von Taliban abgefangen und getötet worden sein. Bei dem Bombenangriff starben wiederum auch Taliban-Wächter. Danach versprachen die Taliban gegenüber den USA, dass sie gegen den ISKP vorgehen, um den Frieden wiederherzustellen.
Das ist in großen Teilen glaubhaft. Für den ISKP sind die Taliban "Abtrünnige", deren Auslegung der Scharia für sie nicht streng genug ist. Für den "Islamischen Staat" sind die Taliban – die nun wirklich nicht vor Gewalt und Repressionen zurückschrecken – zu gemäßigt. Nach dem ausgehandelten Friedensvertrag mit den USA schäumte der ISKP vor Wut: Damit hätten die Taliban die Ziele des Dschihad verraten.
Diese Anschuldigungen nehmen die Taliban nicht einfach hin, im Gegenteil: Nachdem sie das Land unter Kontrolle gebracht hatten, töteten sie den ehemaligen ISKP-Anführer Abu Omar Khorasani, der in einem Gefängnis saß. Die Taliban erklärten, dass sie niemals mit dem "Islamischen Staat" zusammenarbeiten würden.
Droht ein Bürgerkrieg?
Größtenteils scheint das auch zu stimmen. Die Taliban wollen ihr Kalifat in Afghanistan sichern und können keine rivalisierende Islamistengruppe gebrauchen, die ihnen die Macht streitig macht. Aber die neuen Machthaber im Land sind keine zentralisierte Organisation, es gibt viele mächtige Gruppen und Strömungen.
Der ISKP setzt darauf, dass er die Kämpfer aus den Reihen der Taliban rekrutieren kann, die einen Friedenskurs mit dem Westen ablehnen. Denn es gibt durchaus Taliban, die mit dem "Islamischen Staat" sympathisieren. Laut Experten sollen es oft Kämpfer aus dem Südwesten Afghanistans sein, die dem Hakkani-Netzwerk zugeschrieben werden – ein einflussreicher militanter Flügel der Taliban, der wiederum für zahlreiche Anschläge im Land verantwortlich ist.
Doch trotz dieser Sympathien sieht es nach den Attentaten von Kabul eher nach einer Konfrontation zwischen den Dschihadisten aus. Dabei sind die Taliban klar im Vorteil: Sie sind tief verwurzelt in der afghanischen Gesellschaft und haben teilweise den Rückhalt der Bevölkerung, wogegen der ISKP in der Bevölkerung eher als pakistanische Miliz wahrgenommen wird.
Die hochgerüsteten Taliban sind außerdem in puncto Ausrüstung und Truppenstärke dem ISKP deutlich überlegen, sie kontrollieren das Land. Dieses Ungleichgewicht macht eine offene Konfrontation zwischen den Islamisten unwahrscheinlich.
Doch genauso unwahrscheinlich sind Frieden und Ruhe für die afghanische Bevölkerung. Vielmehr wird der ISKP aus dem Untergrund heraus eben genau das verbreiten, was wir dieser Tage in Kabul miterleben mussten: Angst und Terror.
- Eigene Recherchen
- Deutsche Welle: "Die Terroragentur"
- Deutsche Welle: "Terror in Afghanistan: Wer ist IS-K?"
- Soufan Center: "The Cycle of Killing the ISIS leader in Afghanistan"
- n-tv: "Taliban und IS tief verfeindet"
- BBC: "Who are IS-K?"
- NPR: "What We Know About ISIS-K"
- Tagesschau: "Was Taliban, IS und Al-Kaida trennt"
- SRF: "Der IS bestreitet die Herrschaft der Taliban"
- Mit Material der Nachrichtenagentur AFP