Zehn Jahre nach bin Ladens Tod Wie gefährlich ist al-Qaida heute noch?
Genau vor zehn Jahren erschoss eine US-Spezialeinheit Osama bin Laden in Pakistan. Das Terrornetzwerk hinter ihm lebt weiter. Die neue Führung setzt auf eine gänzlich andere Strategie.
Zehn Jahre nach dem Tod von Osama bin Laden hat al-Qaida massiv an Bedeutung verloren. Mit dem Terrornetzwerk, das vor 20 Jahren die Anschläge vom 11. September 2001 verübte und damit den Einmarsch der US-Truppen in Afghanistan provozierte, ist die Gruppe nicht mehr vergleichbar. Al-Qaida sei nur noch "ein Schatten seiner selbst", sagt etwa der Terrorismus-Experte Barak Mendelsohn vom Haverford College in Pennsylvania.
Seit der Tötung bin Ladens durch US-Spezialkräfte in Pakistan am 2. Mai 2011 wird al-Qaida von Aiman al-Sawahiri geführt. Der wenig charismatische Ägypter, der zuvor als Ideologe der Gruppe galt, ist seitdem nicht groß in Erscheinung getreten. Vermutet wird er in der Grenzregion zwischen Pakistan und Afghanistan. Immer wieder gibt es Gerüchte, dass al-Sawahiri längst tot sei.
Al-Sawahiris größter Erfolg sei es, al-Qaida überhaupt "am Leben erhalten" zu haben, sagt Mendelsohn. Weltweit existieren zahlreiche Ableger, die den Namen der Gruppe tragen – etwa in Nordafrika, Somalia, Afghanistan, Syrien oder im Irak. Nach Ansicht von Mendelsohn ist al-Qaidas Führungsspitze aber längst keine mächtige Schaltzentrale mehr, die Entscheidungen für alle ihre Ableger trifft. Sie sei eher ein "Stab von Beratern" für Dschihadisten in aller Welt.
Terrornetzwerk funktioniert wie "Franchise-Unternehmen"
"Unter Sawahiris Führung hat sich al-Qaida zunehmend dezentralisiert", heißt es auch in einem Bericht des US-Instituts Counter Extremism Project (CEP). Die Entscheidungsgewalt liegt den CEP-Experten zufolge hauptsächlich in den Händen der Anführer der zahlreichen Ableger.
Bei dieser Umstrukturierung al-Qaidas in eine Art Franchise-Unternehmen hat al-Sawahiri den Experten zufolge zwar eine wichtige Rolle gespielt. Ende 2020 gab es aber wieder einmal unbestätigte Berichte über seinen Tod. Demnach erlag der al-Qaida-Chef einem Herzleiden. Später tauchte er zwar in einem Video auf, in dem er sich zur Not der muslimischen Rohingya-Minderheit in Myanmar äußerte. Genau datieren ließ sich das Video aber nicht.
Im vergangenen November wurde dann der Tod seines Stellvertreters Abdullah Ahmed Abdullah bekannt, der auch unter dem Namen Mohammed al-Masri bekannt ist. Der al-Qaida-Vize soll im August von israelischen Geheimdienstagenten in Teheran getötet worden sein.
Bin Ladens Nachfolger fehlen Charisma und Unterstützer
Doch auch wenn al-Sawahiri selbst noch am Leben sein sollte: Er ist ein alter und vermutlich kranker Mann, der nicht das Charisma und die Anziehungskraft seines Vorgängers bin Laden hat.
Die USA haben zwar ein Kopfgeld von 25 Millionen Dollar (gut 20 Millionen Euro) auf al-Sawahiri ausgesetzt und ihn ganz oben auf ihre Liste der meistgesuchten Terroristen gesetzt. Experten vertreten aber die Ansicht, die US-Regierung halte ihn für keine allzu große Gefahr und unternehme auch keine größeren Anstrengungen, um ihn zur Strecke zu bringen.
Washingtons mangelndes Interesse hängt natürlich auch mit dem Aufstieg der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) zusammen. Statt sich mit al-Qaida zusammenzutun, liefern sich beide Gruppen in etlichen Ländern einen erbitterten Konkurrenzkampf. Der IS, der auf dem Höhepunkt seiner Macht ein "Kalifat" im Irak und in Syrien kontrollierte, hat al-Qaida als radikale Stimme in den Online-Netzwerken auch medial längst den Rang abgelaufen.
"Außerordentlich widerstandsfähig"
Andere Experten warnen aber davor, al-Qaida angesichts des Bedeutungsverlusts schon ganz abzuschreiben. Colin Clarke vom Soufan Center in den USA unterscheidet etwa zwischen al-Qaida als Organisation und als Teil der islamistischen Bewegung. Zwar erscheine die Führungsspitze um al-Sawahiri wie ein "Relikt aus einer vergangenen Zeit".
Das Netzwerk habe sich in der Vergangenheit aber als "außerordentlich widerstandsfähig erwiesen", sagt Clarke. Es sei daher noch zu früh, "schon jetzt den Nachruf auf die Gruppe zu schreiben".
- Nachrichtenagentur AFP