Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kontrollen an allen Grenzen Sie wollen noch einen Schritt weitergehen
Die EU ist in Aufruhr. Immer mehr Staaten preschen mit Alleingängen in der Asylpolitik vor. Zuletzt hat Polen einen weitreichenden Schritt beschlossen. Ist damit das neue EU-Asylsystem bedroht?
Inhaltsverzeichnis
Nur wenige Wochen, nachdem Deutschland Kontrollen an allen Grenzen wieder eingeführt hat, will Polen die Reißleine ziehen und noch einen Schritt weitergehen. Das Asylrecht soll teilweise ausgesetzt werden, kündigte der Regierungschef Donald Tusk an. Am Samstag erklärte er beim Parteitag seiner liberalkonservativen Bürgerkoalition: "Der Staat muss wieder zu hundert Prozent die Kontrolle darüber zurückgewinnen, wer nach Polen kommt und einreist."
Mittlerweile hat die Regierung ein entsprechendes Papier beschlossen – trotz Widerstands des linken Koalitionspartners. In einigen Wochen soll ein Gesetzentwurf vorliegen. Nun wollen Polen und Tschechien das Thema auf die Tagesordnung beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs ab Donnerstag in Brüssel setzen.
Dabei hatten die EU-Staaten und das Europaparlament sich erst im vergangenen Dezember nach langem Ringen auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt – mit deutlich schärferen Regeln für Asylbewerber. Diese Reform ist noch nicht einmal in Kraft, da versuchen Polen, aber auch andere Länder bereits wieder mit Alleingängen vorzupreschen.
Der Asylrechtsexperte Constantin Hruschka glaubt, damit sei "etwas ins Rutschen gekommen, von dem ich das nie gedacht hätte." Steht das europäische Asylsystem nun vor dem Kollaps?
Kann Polen seine Pläne trotz EU-Rechts einfach umsetzen?
Neu ist Widerstand aus Polen nicht. Schließlich hat die PiS-Regierung vor Donald Tusks Amtszeit bereits Zäune an der Grenze zu Belarus errichtet und rechtswidrige Zurückweisungen vorgenommen. Daher müsse man bei der Bewertung des neuen Vorstoßes zwei Dinge beachten, erklärt Hruschka im Gespräch mit t-online. So wurde Polen für diese Zurückweisungen bereits mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt.
Darüber hinaus habe Polen bei den GEAS-Verhandlungen bereits für eine rechtliche Basis solcher Aussetzungen geworben, sollte das Asylrecht instrumentalisiert werden, wie in diesem Fall durch Belarus. Tusk wirft dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, in organisierter Form Migranten aus Krisenregionen an die polnische Ostgrenze zu bringen. Diese ist zugleich eine Außengrenze der EU. Seit Beginn des Jahres hat der Grenzschutz knapp 28.000 versuchte Grenzübertritte aus Belarus registriert. "Diese Aktionen sind paramilitärisch organisiert", sagte Tusk der "Gazeta Wyborcza".
Durchsetzen konnten sich die polnischen Vertreter bei den Verhandlungen nicht. Mit dem im Mai neu gewählten Europäischen Parlament allerdings haben viele Regierungen nun das Gefühl, dass man bestimmte Nachjustierungen im politischen Prozess besser durchsetzen könnte, glaubt Hruschka. "Zynisch gesagt: Es ist ein Debattenbeitrag der polnischen Regierung für eine andere Regelung."
Zur Person
Prof. Dr. Constantin Hruschka hat seit September die Professur für Sozialrecht an der Evangelischen Hochschule Freiburg inne, zuvor war er Senior Researcher am Max-Planck-Institut in München. Er lehrt außerdem in der Schweiz und an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte sind das Asylrecht, die Verteilung von Schutzsuchenden sowie das damit zusammenhängende Aufenthaltsrecht. Er arbeitete bereits für die Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen und war an der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems für den Ausschuss der Regionen als Experte beteiligt.
Deswegen glaubt Hruschka nicht, dass Polen grundsätzlich niemanden mehr im Asylverfahren aufnehmen wird. Die polnische Ankündigung ziele auf eine "Zurückweisungspraxis an der Grenze, die es eigentlich ohnehin schon gibt".
Welche Möglichkeiten hat die EU nun?
Wahrscheinlich wird die EU schnell auf Polens Vorstoß reagieren. Schließlich gibt es Präzedenzfälle. So verabschiedete Litauen 2022 eine ähnliche Gesetzgebung, für die der Europäische Gerichtshof das Land rasch verurteilte.
Sollte Polen also tatsächlich entsprechende Gesetze einführen, drohen europäische Vertragsverletzungsverfahren, glaubt Hruschka. Zudem gebe es im Fall Polens bereits genug Beweismaterial aus der Vergangenheit, da der Gerichtshof das Land schon mehrfach verurteilt hat. Brüssel sei bereits "im Kontakt mit den polnischen Behörden", sagte eine Kommissionssprecherin in Brüssel. Sie betonte, als EU-Mitglied habe Polen "die Verpflichtung, den Zugang zum Asylverfahren sicherzustellen".
Zudem kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) einen neuen Gesetzentwurf zur Abschiebung von Migranten an. Der geplante Vorschlag aus Brüssel sehe vor, "den Rückführungsprozess wirksam zu straffen", erklärte von der Leyen in einem am Montagabend veröffentlichten Brief an die 27 Mitgliedsstaaten. Die Kommission wolle verhindern, dass Geflüchtete und Migranten "Lücken im System" nutzen, um in der EU zu bleiben. Details nannte sie nicht.
Hruschka glaubt, sie wolle damit "unerledigte Aufgaben" aufarbeiten. Schließlich stamme die aktuelle Richtlinie für Rückführungen aus dem Jahr 2008. Zwar habe es bereits vor Jahren einen Reformvorschlag gegeben. Dieser sei bei den GEAS-Verhandlungen aber bewusst nicht einbezogen worden. "Man nimmt den Reformprozess zur Rückführungsrichtlinie wieder auf und bringt ihn nun zum Abschluss", erklärt Hruschka.
Über diese Themen wird am Donnerstag in Brüssel wohl intensiver diskutiert, wenn die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten zusammenkommen. Auch die von Deutschland eingeführten Grenzkontrollen werden wohl ein Thema sein, sie stehen unter Beobachtung. "Die Wiedereinführung von Grenzkontrollen sollte eine letzte Maßnahme sein, außergewöhnlich, und im Verhältnis zur erkannten Bedrohung stehen", mahnt von der Leyen.
Was bedeutet Polens Vorstoß für andere EU-Länder, die Ähnliches vorhaben?
Polens Vorstoß ist auch eine Reaktion auf das Vorgehen anderer europäischer Länder. Italien hat seinen Asylkurs stark verschärft, und Ungarn sowie die neue niederländische Regierung fordern sogenannte Opt-out-Regelungen, Ausnahmen von den EU-Verträgen zu den Asylregelungen.
Hruschka sieht darin den Versuch rechter Regierungen einiger europäischer Länder, die nationale Souveränität über das Asylrecht zurückzuerhalten, um so mehr das durchführen zu können, was nach dem Europarecht und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht erlaubt ist. An einen langfristigen Erfolg glaubt er aber nicht: "Da wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die große Korrekturinstanz werden."
Allerdings sei es problematisch, wenn immer mehr Staaten solche Forderungen stellen. Auch Deutschland trage mit der Schließung seiner Binnengrenzen zur Dynamik bei. Die Maßnahmen hätten keinerlei europäischen Impetus mehr, warnt Hruschka. "Es geht um den Nationalstaat, es geht nicht um die EU. Und das ist für die Idee Europa eine Bedrohung."
Was passiert mit der erst kürzlich erzielten EU-Einigung zum Asylrecht?
Trotz der GEAS-Einigung gibt es laut Hruschka "nun ein paar Staaten, die merken, dass sie nicht bekommen haben, was sie sich gewünscht haben, und dass die Regeln nicht so restriktiv sind, wie sie sich das gewünscht hätten". Deshalb wollten sie jetzt in der Umsetzungsphase den Bedarf für weitere Änderungen anmelden. Das hängt laut Hruschka auch mit dem Rechtsruck bei den vergangenen EU-Wahlen zusammen. So glauben einige Regierungen offenbar, mit dem neuen Parlament neue Möglichkeiten zu haben.
Was passieren könnte, sehe man am aktuell geltenden Asylrecht, das seit 2015 in Kraft ist, erklärt Hruschka: "Zuletzt hat sich niemand mehr daran gehalten." Jetzt komme es darauf an, wie die Europäische Kommission sich als Hüterin der Verträge präsentiere. Schließlich müssen die Mitgliedsländer bis Dezember eine Umsetzung der GEAS-Regeln vorlegen.
Das könne ein entscheidender Moment für das europäische Asylsystem werden. "Wenn das sehr viele Staaten machen, dann wird die Diskussion wieder europäischer werden. Denn dann muss man über die konkrete Umsetzung verhandeln." Daher glaubt Hruschka, dass viele Staaten nun noch einmal die Möglichkeit nutzen, um zusätzliche Forderungen in die Debatte einzubringen, ohne aber die grundsätzliche Einigung infrage zu stellen.
"Ich glaube: Wenn klar wird, dass diese Regeln anzuwenden sind, wird sich der Wirbel legen", sagt Hruschka. Garantiert sei das aber nicht: "Ich würde nicht viel Geld wetten, dass das tatsächlich passiert", schränkt er ein.
Steht das EU-Asylsystem vor dem Zusammenbruch?
Auch wenn die GEAS-Vereinbarungen nachverhandelt werden könnten: Ein gänzliches Scheitern des europäischen Asylsystems sieht Hruschka nicht. "Ich glaube, dass die Standards und die Gesetzgebung in vielen Ländern so robust sind, dass das nicht komplett aufgegeben wird", warnt er.
Dennoch sei die Diskussion eine Warnung, dass sich das Selbstverständnis der Europäischen Union gewandelt hat. Die Diskussion über Personen mit einem klaren Schutzbedarf sei früher undenkbar gewesen, es sei vielmehr um Asylmissbrauch gegangen. "Da ist der Ton rauer geworden", findet Hruschka.
- Gespräch mit Constantin Hruschka
- Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa