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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schleife binden Müssen Kinder sowas heute noch können?
"Schau mal, was ich kann!" Ein Kind, das gelernt hat, seine Schuhe zuzubinden, platzt fast vor Stolz. Zu Recht, denn es hat eine feinmotorische Höchstleistung vollbracht. Dazu sind heutzutage immer weniger Kinder im Vorschulalter in der Lage.
Schuld daran sind nicht nur die Klettverschlüsse. Denn zum Erlernen des Schleifebindens brauchen alle Geduld, Kinder und Eltern. Hat das Kind einmal verstanden, wie das Prinzip funktioniert, will es üben. Auch dann, wenn man es eilig hat. Doch diese Zeit sollte man einplanen. Sie lohnt sich.
Jedes Mal, wenn der fünfjährige Jannik versucht, seine Schuhe zuzubinden, scheinen sich deren Schnürsenkel in kleine Schlangen zu verwandeln - und zwar in welche mit Eigenleben. Sie winden sich, schlängeln davon, tauchen auf, wo sie nicht erwartet werden.
Dabei sieht es bei seinem großen Bruder so einfach aus. Schuld ist die Auge-Hand-Koordination. So nennen Entwicklungsexperten die motorische Fähigkeit, die bei dem achtjährigen Elias schon deutlich ausgeprägter ist als bei seinem kleinen Bruder.
Voraussetzung für Lesen und Schreiben
Bis zur Einschulung sollte ein Kind das Binden einer Schleife beherrschen. Und zwar nicht nur, weil ein Grundschullehrer nicht die Möglichkeit hat, allen Kindern vor der Pause die Schuhe zuzubinden oder weil man später mal ein Geschenk schön verpacken will. Sondern auch, weil man daran gut merken kann, ob grundsätzliche Fähigkeiten bereits vorhanden sind.
"Zum Schleife binden ist ein komplexes räumliches Vorstellungsvermögen nötig", erklärt die Ergotherapeutin Cathrin Trauernicht im Gespräch mit t-online.de. "Dazu kommt eine gewisse Handgeschicklichkeit und die Dosierung der Kraft, denn sonst rutscht die Schleife gleich wieder auf oder wird zu weit durchgezogen." Alles Fähigkeiten also, auf die es in der Schule ankommt, um auch lesen und schreiben zu lernen.
Feinmotorik spielerisch üben
Denn genau wie das korrekte Halten eines Stiftes gehört auch das Schleife binden in den Bereich der Feinmotorik. Bei diesen Fähigkeiten geht es darum, die eigene Kraft richtig zu dosieren.
Das lässt sich prima üben: Kneten, Basteln, Falten, Kleben, Ausschneiden, das Auffädeln und Sortieren kleiner Perlen, aber auch ein Brot schmieren, Knöpfe zumachen oder Brettspiele spielen - all diese Dinge, die Kinder im Vorschulalter sowieso gerne machen, helfen ihnen dabei, sich etwas anzueignen, was sie später auf andere Felder übertragen können.
"Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Am besten man macht mit dem Kind Dinge, die einem auch selbst Spaß machen", empfiehlt Trauernicht. Wer nicht gern knetet, der bäckt vielleicht lieber mit dem Kind, letztendlich ist es nur wichtig, dass die Situationen keinen Übungscharakter bekommen.
"Die Freude muss unbedingt erhalten bleiben. Es gibt also keine Fehler, sondern künstlerische Freiheiten. Wir Eltern legen die Grundsteine für das Lernverhalten. Und damit auch die Freude daran, Neues zu entdecken und die Ausdauer, auch dran zu bleiben, wenn es mal nicht gelingt."
Linkshänder binden die Schleife anders
Den richtigen Zeitpunkt zum Erlernen der Schleife signalisiert das Kind, indem es von selbst neugierig darauf wird. Dann sollte man sich die Zeit auch nehmen und zwar zum Üben, denn ohne geht es nicht. Welche Schleifenvariante man wählt, ist übrigens völlig egal. Selbst Rechtshänder machen zum Beispiel oft die Linkshänderschleife, ohne es zu wissen. Manche Kinder entwickeln beim Üben sogar eigene Ansätze, mit denen es besser klappt. Das Ergebnis zählt.
Am besten setzt man sich hinter das Kind oder daneben. Denn so kann es leichter verfolgen, was man macht. Manche Eltern helfen sich auch mit einem Reim wie "Das ist der Berg, drumherum springt der Zwerg, schlüpft ins Loch, fang mich doch!" und machen das Ganze so noch spielerischer. Um das Kind zusätzlich zu motivieren, kann man auch gemeinsam einen Papp-Schuh basteln, ihn mit Löchern versehen, anmalen und Schnürsenkel durchziehen.
Bei den Schürsenkeln darauf achten, dass es keine rutschigen Chemiefasern sind, sondern am besten welche aus Baumwolle. Die lassen sich besser greifen und rutschen nicht so schnell weg. Wenn man weiße nimmt, dann kann man die eine Hälfte bunt anmalen, das macht es leichter, die beiden Seiten voneinander zu unterscheiden.
"Erfolge feiern und bewundern"
Zum Zwang sollte das Schleife binden aber nicht werden. Trauernicht sieht es eher als ein "Sahnehäubchen" an, das nicht nur Geduld erfordert, sondern auch Spaß machen soll, und zwar Eltern und Kindern.
"Mir fehlt oft die fröhlich-freundliche Ruhe zum Erlernen von neuen Fähigkeiten. Die Freude am Experimentieren, ein Lachen über Fehlversuche, das Genießen der Nähe zum Kind." Eltern hätten heute leider oft einen sehr vollen Alltag, der durch Zeitfenster und Termine bestimmt werde. Da bleibe beim Anziehen keine Zeit, auf das Kind zu warten.
"Abläufe müssen funktionieren, statt dem Tempo des Kindes angepasst zu werden. Daran wird man grundsätzlich nichts ändern können. Aber es hilft, sich selbst immer wieder bewusst zu machen, dass die Beziehung zum Kind der beste Motor zum Erlernen von Fähigkeiten ist. Es muss Zeit sein, die Erfolge zu feiern und zu bewundern", so Trauernicht.
Und es muss Zeit sein, die kleinen Enttäuschungen zu verarbeiten, wenn es schon wieder nicht geklappt hat. Wir Erwachsenen machen das wie selbstverständlich, aber dass es nicht einfach ist, wird dann klar, wenn man sich bewusst macht, dass hier beide Hände unterschiedliche Dinge gleichzeitig tun müssen.
Das Kind im Blick behalten, seine Bemühungen loben, ruhige Momente gezielt suchen und sie nutzen - da lernt es sich viel leichter. Beim Schleife binden ist eben Fingerspitzengefühl gefragt. Nicht nur beim Kind.