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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Attachement Parenting Wie viel körperliche Bindung braucht ein Kind?
Die Aufregung war riesig, nachdem das "Time-Magazine" im Mai auf seiner Titelseite fragte: "Are You Mom Enough" und daneben eine junge Mutter abbildete, die ihrem fast vierjährigen Sohn die Brust gibt. Damit war eine Debatte losgetreten, die sich um die Frage drehte, wie lange Kinder eigentlich gestillt werden dürfen. Dabei geriet fast in Vergessenheit, dass sich der Artikel eigentlich um das sogenannte "Attachment Parenting" drehte - der bindungsorientierten Elternschaft, zu deren Prinzipien auch das Langzeitstillen gehört. Was steckt aber genau hinter diesem pädagogischen Konzept?
So viel körperliche Nähe wie möglich
Die Theorie hinter "Attachment Parenting" wurde bereits in den 50er Jahren entwickelt. Damals sorgte eine Studie der Psychotherapeutin Jean Liedloff für Aufsehen. Sie hatte bei einem Besuch in Venezuela beobachtet, dass die Einheimischen ihre Kinder meist bei sich trugen und dass die Kleinen weniger zu schreien schienen als zu Hause in den USA, wo weniger "Tuchfühlung" üblich war.
Daraus entwickelte 1993 der Kinderarzt William Sears den aus 767 Seiten bestehenden Wälzer "The Baby Book", der zum Bestseller wurde. Die Idee dahinter war: Die körperliche Bindung zwischen Eltern und Kindern soll so eng wie möglich sein, damit der Nachwuchs mehr emotionale Stabilität und Selbstsicherheit entwickelt und letztendlich zu einer gefestigten Persönlichkeit heranreift. Das wird erreicht, indem - so die Sears-Theorie - Babys ständig nah am Körper in einem speziellen Wickeltuch herumgetragen werden, lange Zeit mit im elterlichen Bett schlafen und nicht zuletzt auch lange gestillt werden, bis sich das Kind selbst entwöhnt.
Sears: Babyweinen unbedingt verhindern
Ein zentraler Punkt in der Philosophie des Mediziners ist die sofortige Reaktion der Eltern auf Babygeschrei: Jegliche negativen Emotionen sollen unterbunden werden. Längeres Weinen könne nämlich zu Hirnschäden führen, warnt Sears, weshalb sich Mütter und Väter bei jedem Geschrei umgehend um ihren Sprössling kümmern müssten. Von solch pauschaler Panikmache halten die meisten Kritiker jedoch überhaupt nichts, zumal keine gesicherten Untersuchungen vorliegen, die diese Theorie untermauern. Außerdem könnten Kinder auf diese Weise, so die Gegner Sears, keine Erfahrungen im Umgang mit Frustration machen, da die Eltern sie immer abschirmten.
Auch aktuelle Ratgeber-Bestseller wie "Mutter des Erfolges " von Amy Chua und "Bringing up the Bébé" von Pamela Druckermann entwerfen ein Gegenkonzept, indem sie behaupten, dass Babys nicht ständig umsorgt werden müssten. So könnten sie später schneller selbstständig und erfolgreicher werden.
Kritik an extremer Form des Umsorgens
Besonders kritisch äußern sich Experten allerdings, wenn es um das Alter der Kinder bei Sears Erziehungskonzept geht. Solange nämlich von Säuglingen die Rede ist, scheinen viele der Ideen nachvollziehbar und gesellschaftskonform zu sein. Zum Aufreger wird die "Bindungsorientierte Pädagogik" erst, wenn die umsorgten Kleinen dem Babyalter entwachsen sind. Für viele Wissenschaftler ist dann das Vermeiden von Weinen, das Schlafen im Elternbett und das lange Stillen eine extreme Form des Umsorgens und steht ihrer Ansicht nach im krassen Widerspruch zu entwicklungspsychologischen Erkenntnissen. Dadurch, dass Kinder in künstlicher Abhängigkeit gehalten werden, würden ihre Autonomiebestrebungen unterdrückt und sie wären gezwungen über zu lange Zeit "Kleinkind" zu bleiben, so die Begründung.
Auch der bekannte Kinderpsychiater Michael Winterhoff (Autor der Bücher "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" und "Lasst Kinder wieder Kinder sein") vertritt hier eine kritische Haltung und bezeichnet das Erziehungskonzept als Grenzüberschreitung und Missachtung des Kindes, die mit Bindung nichts mehr zu tun habe. Gegenüber "DiePresse.com" sagt er, irgendwann müsse Schluss sein. Ab einem Alter von neun Monaten könnten Kinder auch einmal ein bis zwei Minuten warten. Und im Bett der Eltern hätten sie ab einem bestimmten Zeitpunkt überhaupt nichts mehr verloren - auch im Interesse der Eltern nicht.
Langzeitstillen aus egoistischen Motiven?
Die intensivste Debatte wird aber, wie die Reaktionen auf das Time-Titelbild beeindruckend zeigten, um das vom "Attachment Parenting" empfohlene Langzeitstillen geführt. Hier schlagen die emotionalen Wellen besonders hoch. In einem Eltern-Forum schreibt eine Mutter stellvertretend für viele Skeptiker: "Ich finde es befremdlich. Warum soll man ein Dreijähriges Kind noch stillen? Da kann doch nur die Mutter nicht loslassen. Ich kann mein Kind auch ohne Brust trösten." Und eine andere meint: "Das ist unmöglich. Diese Mütter handeln nach rein egoistischen Motiven und sehen dabei nur ihre eigenen Bedürfnisse nach Nähe. Ob das Kind das auch will, wird nicht gefragt."
Auch Mediziner gehen in Abwehrhaltung: Gegenüber der "Märkischen Allgemeine" befand der Chef des Verbandes der Berliner Kinder- und Jugendärzte Ulrich Fegeler kürzlich Langzeitstillen als "esoterischen Quatsch". Stillen sei nur etwas für die ersten vier Monate, danach habe es keinen biologischen Nutzen. Ähnlich äußern sich auch andere Mediziner. Der Kinderpsychologe Holger Simonszent zieht eine Grenze bei anderthalb Jahren, ansonsten entstehe eine einseitige Abhängigkeit von der Mutter und die Autonomieentwicklung würde behindert.
"Es gibt keine Kultur des Stillens"
Diese Thesen hält die Hebamme und Still- und Laktationsberaterin Alyed von Gartzen aus Hannover für absurd. Zudem gäbe es keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die solche Behauptungen stützten. "Kinder nehmen sich doch gerade beim Stillen, was sie brauchen", argumentiert sie. "Sie dosieren und bestimmen also selbst. Das hat die Natur so eingerichtet."
Dennoch wundert sich die Expertin nicht, denn die kritische Haltung gegenüber dem Stillen und insbesondere Langzeitstillen hätte hierzulande aber auch in anderen westlichen Ländern eine lange Tradition, erklärt von Gartzen gegenüber der Elternredaktion von t-online.de: "Es gab noch nie eine echte Stillkultur in Deutschland. Stillen ist nicht gesellschaftkonform und es findet auch meist nicht in der Öffentlichkeit statt - wird also nicht vorgelebt." Es sei doch paradox, meint sie, dass auf der einen Seite in den Medien nackte Busen als Sexualobjekt allgegenwärtig seien, aber die entblößte Brust einer stillenden Mutter in der Öffentlichkeit nicht zur alltäglichen Normalität gehöre.
Schon kleine Puppenmütter trainieren das "Fläschchen geben"
Wie tief die Kultur des "Nicht-Stillens" bei uns verwurzelt sei, sähe man schon, wenn kleine Mädchen Puppen geschenkt bekämen. "Da sind immer Trinkfläschchen dabei und die Kinder ahmen das dann nach. So wird den Puppenmüttern vermittelt, dass Fläschchen geben und nicht das Stillen das Natürlichste von der Welt ist", kommentiert Stillberaterin von Gartzen. Diese "Tradition" wird auch an statistischen Daten deutlich. Obwohl über 90 Prozent der jungen Mütter, so Angaben der "Deutschen Stillkommission", nach der Geburt ihrem Baby die Brust gaben, stillten nach sechs Monaten nur noch 22 Prozent ihr Kind voll. Es folgen also weniger als ein Viertel der Mütter der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wonach Babys in den sechs Lebensmonaten ausschließlich Muttermilch bekommen sollten und bis zum zweiten Lebensjahr oder darüber hinaus ergänzend gestillt werden könnten.
Es wird zu früh Beikost empfohlen
"Viele Mütter werden einfach viel zu früh - auch von Kinderärzten - dazu angehalten, schon nach wenigen Monaten abzustillen", kritisiert Hebamme und Stillberaterin von Gartzen. "Und im Supermarkt locken meterweise Regalreihen von Babygläschen ab dem vierten Monat schon mit Beikost zu beginnen." Dieser Trend widerspricht eindeutig wissenschaftlichen Erkenntnissen, wonach längeres Stillen für Mutter und Kind gleichermaßen gesund ist - vor Allergien schützt, das Immunsystem stärkt und das Risiko zahlreicher Erkrankungen mindert. Dies werde unterstützt durch Erhebungen aus den USA, ergänzt von Gartzen. Eine Analyse habe dort kürzlich gezeigt, dass das US-Gesundheitssystem jedes Jahr 13 Milliarden Dollar einsparen könnte, wenn 90 Prozent der Säuglinge im ersten Lebenshalbjahr ausschließlich Muttermilch erhielten.
Auch Prominente unterstützen "Attachment Parenting"
Anhänger von "Attachment Parenting" sind zudem davon überzeugt, dass sie ihre Kinder durch langes Stillen auch seelisch stärken. "Meine Tochter ist drei und ich stille weiter. Sie möchte das so", schreibt eine Mutter in einem Elternforum: "Ich finde das nicht schlimm. Nur weil unsere kaputte Gesellschaft sagt, dass es nicht normal und sogar abartig ist, werde ich mein Kind nicht entwöhnen." Sogar von prominenter Seite kommt hier Unterstützung. Die kanadische Sängerin Alanis Morissette äußerte sich jüngst in einer amerikanischen Talkshow. Auch sie stille ihren anderthalbjährigen Sohn weiterhin, erzählte sie dort. Und sie sei auch überzeugt davon, dass Kinder dadurch gesünder und psychisch stärker würden.
Angela Schickhoff, die ebenfalls zu den wenigen "Langstillern" zählt, versucht regelmäßig Überzeugungsarbeit in ihrem Blog http://langzeit-tandem-stillen.blogspot.de/ zu leisten. Die Potsdamerin, die sowohl ihre vierjährige Tochter als auch ihren fünfjährigen Sohn noch immer an die Brust lässt, ist verwundert darüber, dass so viel Aufregung um das Thema herrscht. Sie dränge ihre Kinder nicht an die Brust zu kommen. Außerdem sei das Stillen in diesem Alter nicht zu vergleichen mit dem Stillen eines Säuglings: "Es handelt sich dabei nur um gelegentliche intime Momente zwischen Mutter und Kind bei denen eventuell wirklich Durst oder Hunger gestillt wird, aber auch nur gekuschelt oder getröstet wird ... ich glaube", so Angela Schickhoff weiter, "dass eine Stillzeit von circa drei Jahren durchaus natürlich für uns Menschen ist," schreibt sie im Blog." Das Dumme ist nur, dass es nicht (mehr) in unsere Zeit passt und sicherlich auch deshalb auf so viel Ablehnung trifft."