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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wenn Erzieher ihre Macht missbrauchen Wie weit dürfen Kita-Pädagogen gehen?
Jeden Morgen, wenn Eltern ihre Sprösslinge in den Kindergarten bringen, vertrauen sie auch darauf, dass ihr Nachwuchs die beste Fürsorge durch das pädagogische Team vor Ort erhält. Was aber, wenn Betreuer mit ihren erzieherischen Maßnahmen übers Ziel hinaus schießen und zum Beispiel Zwang oder Gewalt ausüben? Doch was ist pädagogisch erlaubt?
Erzieher tragen nicht nur viel Verantwortung, sondern müssen auch ein stabiles Nervenkostüm haben. Im täglichen Trubel müssen diese Pädagogen sowohl auf die Gruppe als auch auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes so gut wie möglich eingehen. Dabei sollten die sie jedoch nicht jedem Wunsch und Dickkopf nachgeben.
Wenn sich Kinder nicht an Regeln und Abläufe halten wollen
Als besonders schwierig entpuppen sich Situationen, die fest zum Kitatagesablauf gehören und die alle Kitakinder mitmachen sollten: der Mittagsschlaf, das Händewaschen nach dem Toilettengang oder das Zähneputzen. Problematisch sind häufig auch die gemeinsamen Mahlzeiten. Denn nicht alle Kinder haben gleich viel Appetit und nicht alle mögen die Speisen, die angeboten werden. Für Erzieher kann es dann zur besonderen pädagogischen Herausforderung werden, einen kleinen Essensboykottierer behutsam vom Gegenteil zu überzeugen. Zwang sollte sie dabei aber nicht ausüben.
Rabiate Zwangsmaßnahmen statt zugewandter Fürsorge
Nach dieser Devise handeln jedoch leider nicht alle Erzieher. So wollte zum Beispiel eine Erzieherin aus Bayern mehrfach nicht akzeptieren, als Ein- bis Zweijährige in ihrer Gruppe das Essen verweigerten. Sie zwang daraufhin, die Kinder dennoch zu essen, indem sie das Essen in die gewaltsam geöffneten Münder schob und den Kindern dann den Mund zuhielt, bis sie schluckten. Vergangenen Herbst wurde die Erzieherin von dem Amtsgericht Augsburg wegen Nötigung zu einer Geldstrafe von 3200 Euro verurteilt – in den Augen vieler Eltern eine viel zu milde Strafe.
Ähnliche Fälle sind beispielsweise auch aus Thüringen bekannt: So verhängte das Amtsgericht Gera 2014 ebenfalls Geldstrafen von bis zu 5500 Euro, weil Erzieherinnen unter anderem ein Mädchen zum Essen an einen Stuhl banden und einen Jungen zwangsfütterten, bis er unter Tränen würgte. 2012 wurden vier Erzieherinnen einer Altenburger Krippe wegen Gewaltanwendung und Nötigung angeklagt. Sie sollen Kinder zum Mittagsschlaf festgebunden haben und anderen Schutzbefohlenen ausgespuckte Nahrung wieder in den Mund gestopft haben.
Der schwierige Umgang mit der pädagogischen "Macht“
Glücklicherweise sind solche drastischen Beispiele von missverstandener Pädagogik nur selten. Die meisten Erzieher von den bundesweit rund 600.00 Beschäftigten machen ihre Sache gut und sind für die Kinder Orientierungspunkt und emotionaler Hafen. "Dennoch gehen wir täglich auf dünnem Eis“, betont Jan, Frühpädagoge in einer Kita im Rhein-Main-Gebiet. "Unser Job ist immer eine Gratwanderung. Auf der einen Seite die Aufsichtspflicht und auf der anderen Seite das Kindeswohl.“ Da könne es dann beispielsweise schon mal vorkommen, dass man ein Kind in einer Gefahrensituation plötzlich am Ärmel packen und zurückreißen muss, um es vor einer Verletzung zu bewahren.
Wo fängt Gewalt an?
Vor einer ähnlichen Situation stand kürzlich auch Erzieherin Jans Kollegin Suse. Einer ihrer Schützlinge hatte Durchfall und sollte gewickelt werden. Der breiige Stuhl quoll bereits aus der Windel und hinterließ Spuren auf dem Spielteppich. Als die Erzieherin den kleinen Jungen hochnehmen wollte, wehrte er sich allerdings mit Händen und Füßen. "Eigentlich gilt bei uns die Regel, dass wir Kinder nicht gegen ihren Willen wickeln. Andererseits war in diesem Fall die Verunreinigung auch für die anderen Kinder zu groß. Also musste ich handeln und habe das Kind gewickelt – allerdings unter Anwendung von körperlichem Zwang. Dabei habe ich mich aber bemüht meine physische Kraft sehr behutsam einzusetzen und das Ganze auch mit viel Streicheleinheiten und Zuspruch zu begleiten.“
Konsequent gegen Trotz, Trauer und Tränen in einer schwierigen Situation zu agieren, sei für Kinder in der Regel nicht problematisch, fügt Erzieher Jan hinzu, wenn das Urvertrauen zu der anwesenden Bezugsperson nicht nachhaltig gestört werde.
Das BGB regelt den Erziehungsauftrag in Kitas
Auf übergreifende Richtlinien oder offizielle Maßnahmenkataloge beziehungsweise Verhaltensregeln für ihren Berufsstand können sich Erzieher nicht stützen. Darüber hinaus haben Kitapädagogen im Gegensatz zu Lehrern keinen staatlichen Erziehungsauftrag. Hier ist die gesetzliche Grundlage – neben einigen Kita-Landesgesetzen – das 8. Sozialgesetzbuch, das Kinder- und Jugendhilfegesetz (§ 22 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII): "Tageseinrichtungen für Kinder und Kindertagespflege sollen (…) die Erziehung und Bildung in der Familie unterstützen und ergänzen.“
Kitas haben demnach nur einen von den Eltern „abgeleiteten Erziehungsauftrag“. Erzieher dürfen also bei der Betreuung der Kinder nicht "mehr“ als die Eltern, sondern müssen die Grenzen des elterlichen Sorgerechts einhalten: Und das ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung (§ 1631, Abs.2 BGB) und der Schutz des Kindeswohls (§ 1666 BGB).
Was tun, wenn Erzieher zu weit gehen?
Wie aber sollen Mütter und Väter vorgehen, wenn sie den Verdacht haben, dass ihr Nachwuchs in der Kita schlecht behandelt wird und fragwürdige Pädagogik angewendet wird? Dabei muss es nicht immer um körperliche Gewalt oder Zwangsmaßnahmen etwa beim Essen gehen. Auch absichtliches Bloßstellen eines Kindes, gezieltes Verspotten, Ausschlagen eines Versöhnungsangebots oder entwürdigende Bestrafungen wie zum Beispiel Verweigern von Blick- beziehungsweise Gesprächskontakt widersprechen dem Grundsatz einer gewaltfreien Erziehung.
Zunächst sollten Eltern mit der Erzieherin oder der Gruppenleitung sprechen. Gleichzeitig können sie sich auch an den Elternbeirat der Einrichtung wenden. Der nächste Schritt wäre dann Kontakt mit der Kitaleitung aufzunehmen. Ist das Problem intern nicht zu klären, haben die Erziehungsberechtigten die Möglichkeit, sich an die zuständige Aufsichtsbehörde zu wenden. In der Regel sind das die Jugendämter. Sie haben bei einer möglichen Kindeswohlgefährdung auch außerhalb der Familie die Aufgabe, Verdachtsfällen in Kindergärten und Krippen nachzugehen.