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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erziehung Das Lolita-Phänomen: Ehrgeizige Eltern rauben Kindheit
Das Geschäft mit der Schönheit boomt. Von jedem Werbeplakat, in jeder Zeitschrift und in jedem Fernsehsender lächeln uns pausenlos junge, attraktive und sexy Menschen entgegen. Sie sind das allgegenwärtige Maß aller Dinge, stehen für Sympathie, Erfolg, Dynamik und Gesundheit und werden damit zum perfekten Marketingmittel. Empfänglich für solche Botschaften sind vor allem junge Mädchen. Besonders extrem ist dabei die Entwicklung in den USA. Doch wie geht man in Europa beziehungsweise in Deutschland mit dem Phänomen um?
Schon Achtjährige sind fasziniert von der Welt der makellosen Schönheiten und Berühmtheiten auf den Laufstegen und roten Teppichen. Sie sehnen sich danach etwa bei Model-Castings, Fotoshootings oder Schönheitswettbewerben mitzumachen, um so auszusehen und so zu werden wie ihre perfekten, sexy Vorbilder. Dieser Trend nimmt mittlerweile sogar bizarre Formen an: Denn vielerorts sind es sehr junge Mädchen, die, angetrieben von ihren ehrgeizigen Eltern, als gestylte Lolitas zum Star werden sollen.
Eden Wood: Million-Dollar-Baby-Doll
Der unumstrittene Star der amerikanischen Kinder-Schönheitswettbewerbe ist zurzeit Eden Wood. Die Sechsjährige kennt High-Heels, Make-up, rote Lippen, künstliche Wimpern und Haarspray seit sie laufen kann. Denn seit dieser Zeit wird sie wie eine lebende Barbie-Puppe von ihrer Mutter von Wettbewerb zu Wettbewerb geschleppt und kämpft mit sexy Posen, eingefrorenem Lächeln, grazilem Gang und den entsprechenden glamourösen Roben um die Gunst der Juroren. Die hat ihr mittlerweile dreihundert Titel eingebracht und jede Menge Dollars.
Einfach Kind sein zu dürfen, darauf kommen die ehrgeizige Mutter und ihre Tochter nicht. Eden ist auch nie danach gefragt worden, was sie möchte. Sie kennt nur dieses Leben. Dass sie ihre Tochter gnadenlos vermarktet und ihr die Kindheit raubt, diesen Vorwurf weist Mutter Wood energisch zurück. Sie behauptet, ihre kleine "Beauty-Queen" hätte Spaß am Erfolg. In einem Fernsehinterview sagte sie: "Solange Eden Freude am Showbusiness hat, unterstütze ich sie. Ich dränge sie nie zu etwas." So singt Eden auch brav in ihrem ersten Pop-Song, mit dem sie die Charts erobern soll "Ich bin eine zuckersüße flotte Biene in schicken Kleidern…"
Ein boomendes Geschäft auf Kosten der Kinder
In den USA haben die Shows der "elterlichen Eitelkeiten" seit Jahren Hochkonjunktur, sind ein Milliardengeschäft. Tausende kleine Mädchen tingeln Wochenende für Wochenende mit ihren Müttern und Vätern durchs Land, posieren artig im Scheinwerferlicht und nähren so die Hoffnung der Eltern, dass ihre Sprösslinge eines Tages vielleicht den Sprung nach Hollywood oder auf die Titelseite eines Hochglanzmagazins schaffen. Bei diesem Business der bizarren Art scheint manchmal jedes Mittel recht zu sein. So ist es beispielsweise nicht unüblich, den kleinen Models frühzeitig die Milchzähne zu ziehen und stattdessen eine makellose weiße Prothese einzusetzen. In amerikanischen Medien wurde außerdem berichtet, dass es Mütter gäbe, die noch nicht einmal davor zurückschreckten, ihre kleinen Beauties das Nervengift Botox in die Stirn zu spritzen, um sie noch puppenhafter erscheinen zu lassen.
Proteste gegen eine fragwürdige Zurschaustellung
In anderen Ländern verläuft das Geschäft mit Schönheitswettbewerben im XS-Format glücklicherweise weniger reibungslos. In Australien gingen Kinderschützer im Juli auf die Barrikaden, als in Melbourne die erste Veranstaltung nach US-Vorbild stattfand. An vorderster Front äußersten sich Kinderpsychologen empört über diesen Trend. Sie bezeichneten solche Shows als obszön und als eine Art des Kindesmissbrauchs. Außerdem entwickelten die Mädchen ein gestörtes Selbstbewusstsein: Sie lernten, so die psychologische Einschätzung, dass Bestätigung und Erfolg immer an Schönheit gekoppelt seien und dass Verlieren für sie bedeute, weniger liebenswert zu sein.
Der Kinderschutzbund verhinderte Schönheitswettbewerbe
Auch hier in Deutschland gab es bereits vor 15 Jahren Versuche, solche Shows zu etablieren. Der Bedarf und das Interesse seien enorm, so versicherte damals die Agentur "Miss Germany Association", die im Vergnügungspark "Phantasialand" eine Mini-Miss-Germany küren wollte. Doch der Landesverband des Deutschen Kinderschutzbundes Nordrhein-Westfalen machte gemeinsam mit der Politik den Veranstaltern einen Strich durch die Rechnung und verbot kurzerhand den Wettbewerb.
Seitdem existierten hierzulande, so die Sprecherin des Deutschen Kinderschutzbundes in NRW Nicole Vergin, keine Ambitionen mehr dieser Art: "Wir lehnen solche Veranstaltungen entschieden ab, weil die Kinder von ihren Eltern instrumentalisiert und zu diesen Vorführungen gedrängt werden. Außerdem ist die sexualisierte Aufmachung der Kleinen dabei eine sehr bedenkliche Komponente." Entsprechend äußerst sich auch der Geschäftsführer Ralf Klemmer von der Agentur "MGC-Miss Germany Corporation": "Uns ist klar, dass wir nicht mit Kleinkindern arbeiten möchten und werden. Wie sollen wir ihnen beibringen, warum das andere Mädchen besser, schlauer oder schöner ist. Ich bin mir sicher, dass einige Kinder dies nicht verarbeiten können. Weiterhin wird es Kids geben, die alles für ihre ehrgeizigen Eltern machen würden. Und das passt uns auch nicht! Ich glaube, keine Firma in Deutschland würde dies machen."
Konjunktur der Mini-Vamps in der Mode-Branche
In Frankreich dagegen scheint der moralische Codex weniger streng zu sein als bei uns. Ehrgeizige Eltern, die ihr Kind werbewirksam vermarkten wollen, können hier sogar renommierte Geschäftspartner finden: Für eine Welle der Empörung sorgte nämlich kürzlich die verführerische Aufmachung des französischen Kind-Models Tylane Lena-Rose Blondeau. Die Zehnjährige posierte im Januar mit einem aufreizenden Kleid und Leo-Stilettos auf dem Cover der französischen "Vogue" - sexy drapiert auf einem Tigerfell. Die Fotostrecke im Magazin, die weitere Kindfrauen zeigte und den Ratgeber-Titel "Quel maquillage à quel age?" (welches Make-up für welches Alter?) trug, stand unter der kreativen Leitung des bekannten Modezaren Tom Ford und löste nach einer weiteren Veröffentlichung in der britischen "Vogue" im Sommer eine weltweite Debatte über die Sexualisierung junger Mädchen aus.
Nadja Auermann fordert das Verbot von Kindermodels
Diese Tendenz, Kinder nicht nur auf Hochglanzseiten, sondern auch auf den Catwalks wie reife Frauen zu präsentieren, ist mittlerweile im Modebusiness, das immer auf der Suche nach neuen provokanten und spektakulären Vermarktungsstrategien ist, üblich. Darüber ereifert sich auch das ehemalige deutsche Topmodel Nadja Auermann. Die Mutter dreier Kinder wirft nun einen kritischen Blick auf die Branche und spricht in einem Interview mit "bild.de" Klartext: "Da rennen jetzt viele Models über den Laufsteg, bei denen ich mir denke 'Aha, kleines Mädchen, muss die sexy Frau spielen.' Das sind sehr gefährliche Schönheitsideale. Wir dürfen nicht über Pädophilie schreien und andererseits Minderjährige oder welche, die so aussehen, als Sexobjekte promoten." Und sie fordert: "Kinderarbeit ist verboten! Unter 17 darf meiner Meinung nach kein Model laufen. Es sollten Kontrolleure in die Shows."
Auch in Internet-Foren wird diese Art der Zurschaustellung heftig kritisiert. So schreibt Kerstin angewidert: "Da stellen sich mir die Nackenhaare auf. Ich verstehe die Eltern nicht, die so was erlauben. Natürlich soll es Kindermodels geben, für Kindermode und mit Spaß an der Sache, aber nicht als Lolitas!" Und Philip bemerkt: "Finde ich auch sehr bedenklich, dass ein zehnjähriges Mädchen wie ein Model mit 25 posiert. Spielt doch den Pädophilen prima in die Hände, die immer damit argumentieren, dass es ja keine Kinder mehr seien."
Deutsche Kinderagenturen kritisieren den Trend der Modebranche
Ob professionelle Modefotos wie in der französischen Vogue in Deutschland doch möglich sind, wollte Pro Sieben in einem TV-Experiment ergründen. Für ein Luxuslabel sollten zwei Mädchen zu sexy Vamps gestylt werden und die Mode dann bei einem Foto-Shooting präsentieren. Doch keine renommierte Kinderagentur war bereit, unter diesen Vorrausetzungen junge Models aus ihrer Kartei zu vermitteln. Matina Ihmels von der Agentur "Kids" in Hamburg begründet diese Haltung: "Ich glaube diese Bilder sind fragwürdig: Einmal gibt man Pädophilen ein falsches Signal. Und ich finde auch, dass man die Modebranche in ihrer Tendenz bestätigt, immer jüngere Models zu nehmen. Nach den Magermodels werden es jetzt Kindermodels. Das ist einfach eine falsche Entwicklung."
Die beiden Mädchen, die schließlich doch engagiert wurden, rekrutierte die Designerin aus ihrem Bekanntenkreis. Die zehnjährige Ainhoa und die zwölfjährige Asra genossen zwar das professionelle Styling wie ein buntes Verkleidungsspiel, waren aber auch nachdenklich. Asra kommentierte: "Ich finde es cool für einen Tag. Es ist ja nur ein Foto-Shooting. Wir gehen ja nicht auf die Straße. Einmal darf man ja träumen. Was schlimm ist, was Erwachsene daraus in ihren Gedanken machen." Die Eltern der Mädchen, die das Experiment unterstützten, schluckten übrigens, als sie ihre Töchter als verführerische Mini-Vamps in Augenschein nahmen. Ausstaffiert mit sexy Designerfummeln, Nobelschmuck, High-Heels, Lippenstift, Smokey-Eyes und künstliche Wimpern war nur noch wenig Kindliches an den "Kindfrauen" zu entdecken.