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Warum es bei dieser Debatte nicht um Sexismus geht


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Übermaltes Gedicht
Warum es bei dieser Debatte nicht um Sexismus geht

MeinungVon Ariana Zustra

Aktualisiert am 27.01.2018Lesedauer: 4 Min.
Das Gedicht "Avenidas" von der Fassade einer Berliner Hochschule soll übermalt werden. Plötzlich sorgen sich alle um Kunstfreiheit – dabei leidet die Glaubwürdigkeit der Sexismusdebatte.Vergrößern des Bildes
Das Gedicht "Avenidas" von der Fassade einer Berliner Hochschule soll übermalt werden. Plötzlich sorgen sich alle um Kunstfreiheit – dabei leidet die Glaubwürdigkeit der Sexismusdebatte. (Quelle: David von Becker/dpa)
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Ein Gedicht soll von der Hauswand einer Berliner Hochschule übermalt werden, weil es angeblich sexistisch ist. "Die Kunst- und Meinungsfreiheit ist bedroht!", heißt es nun von allen Seiten. Was in der Kontroverse um eine Gedichtzeile jedoch untergeht: Sie führt auf eine falsche Fährte – und schadet der Sexismusdebatte mehr, als dass sie ihr nützt.

Es gibt also wieder einen Skandal. Und angeblich hat er wieder mit Sexismus zu tun. Grund dafür ist das Gedicht "Avenidas" des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer, das in großen Lettern an einer Gebäudewand der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf geschrieben stand – und das angeblich sexistisch ist.

Das zumindest kritisierte der Studierendenausschuss, der sich vor allem an folgender Zeile störte, die aus dem Spanischen übersetzt lautet: "Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer." Studenten und Mitarbeiter der Hochschule hatten argumentiert, dass damit Frauen zu Objekten männlicher Bewunderung degradiert würden. Nachdem das Gedicht, das 2011 an der Südfassade angebracht wurde, bereits seit 2016 Gegenstand von Debatten ist, hat der Akademische Senat der Hochschule nun entschieden: weg damit. Die Zeilen werden übermalt.

Viele reden nur über Kunstfreiheit – leider

Diese Entscheidung der Hochschule wurde heftig kritisiert. Die, wenn man so will, "Säuberung" der Hauswand ist ein Eingriff in die Kunstfreiheit, ein Eingriff in die Meinungsfreiheit, heißt es von Kritikern. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) bezeichnete es als einen "erschreckenden Akt der Kulturbarbarei", der Deutsche Kulturrat reagierte "erschüttert", der Axel-Springer-Verlag zeigte das Gedicht im spanischen Wortlaut an der LED-Wand des 19-geschössigen Bürogebäudes. Der Lyriker Gomringer selbst kritisierte die Entfernung eines "nicht weichgespülten Gedichts" im Sinne einer falsch verstandenen Political Correctness. Der 93-Jährige behalte sich rechtliche Schritte vor.

Wichtig und richtig – aber auch Aufruhr an falscher Front

Sie alle haben recht. Diese "Zensur" ist ein Eingriff in die Kunst- und Meinungsfreiheit. Aber viel ärgerlicher ist, dass sich dieser Gedicht-Eklat an die aktuelle Sexismusdebatte dranhängt, in der es um manifestierbare Fälle von Sexismus geht. Der Aufruhr um "Avenidas" lenkt damit ab von all den Fällen, in denen Vorgesetzte Mitarbeiterinnen sexuell belästigen, in denen Frauen im Berufsleben Fähigkeiten aufgrund ihres Geschlechts abgesprochen werden, in denen jemand auf sein Aussehen reduziert wird.

Hefte raus, Klassenarbeit: Schon jeder Schüler weiß, dass ein Gedicht auf verschieden Arten interpretiert werden kann, und jede dieser Auslegungen ist legitim. Kunst ist frei von einem "richtig" oder "falsch". Für die Studierendenschaft der Hochschule scheint der Fall jedoch ganz klar: "Dieses Gedicht reproduziert nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren. Es erinnert zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind."

Viel aufgewirbelter Staub – der wirkliche Probleme verdeckt

Doch gerade Gomringers Kunst und besagtes Gedicht von 1951 sind stilbildend für eine Kunstrichtung, in der es eher um Klang und Aussehen von Wörtern geht, als um eine Aussage. Ein Gedicht der Konkreten Poesie, für die Gomringer Wegbereiter war, ist nie ein Gedicht "über" etwas, sondern es ist ein Spiel mit Sprache. Das leuchtet ein, wenn man "Avenidas" in voller Länge liest: "Alleen / Alleen und Blumen / Blumen / Blumen und Frauen / Alleen / Alleen und Frauen / Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer".

Wenn nun etwas so Uneindeutiges, Vages vehement als sexistisch verschrien wird – wie viel Raum, wie viele offene Ohren bleiben da noch für den tatsächlichen Griff unter den Rock? Zu viel Empörung macht irgendwann müde.

Nicht das Gedicht ist sexistisch – sondern unsere Gesellschaft

Ja, man kann "Avenidas" so lesen, wie es der Studierendenausschuss tat. (Was, ganz nebenbei, übrigens auch sexistisch gegenüber Männern ist, diesen angeblich dauergeilen Gaffern.) Sich jedoch darauf festzulegen, dass die Zeilen sexistisch seien, ist vermessen und beansprucht die Deutungshoheit für sich – und das ist das Ende jedes Dialogs.

Es passt in unsere Zeit, in der man leicht zu der selbstüberschätzenden Überzeugung verleitet werden kann: "Ich habe recht!" Dem meistens folgt: "Und du nicht!" Die Publizistin Andrea Roedig fragte im Rahmen der Kontroverse: "Warum entsteht der Eindruck, dass es im Gender-Diskurs um autoritäre Sprachverbote geht? Hat die Gegenseite nur unrecht?"

Glaubwürdigkeit der Sexismusdebatte in Gefahr

Nicht das Gedicht ist sexistisch, sondern unsere Gesellschaft. Dieser Umstand wird höchstens von dem Gedicht reflektiert. Aber dagegen kann man sich nicht wehren, indem man es übermalt, es also aus dem Blickfeld nimmt. Nicht das Gedicht sollte Gegenstand der Debatte sein, sondern die wirklichen Probleme, an die man sich von ihm erinnert fühlt. Die Energie, um über die Dekoration einer Hauswand zu streiten, sollte in die Aufweichung dieser Machtverhältnisse fließen und nicht in das Verbot einer Kunst, die – wenn überhaupt – darauf hinweist.

Die Studentenvereinigung hatte sicherlich im Sinn, Menschen für herrschenden Sexismus zu sensibilisieren. Im schlimmsten Fall erreicht sie das Gegenteil. "Och nee, schon wieder Sexismus? Was, nur ein Gedicht?!", so könnte eine Reaktion lauten.

"Bitte mal alle beruhigen", möchte man da am liebsten antworten. Denn wenn diese Gedichtdebatte mit der Sexismusdebatte verknüpft wird, in der es nicht um Kunstfreiheit geht, sondern um Machtmissbrauch, lenkt sie die Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit weg von Fällen, in denen wirklich Sexismus stattfindet – und das wäre in der Tat ein Skandal.

Quelle:
- dpa
- eigene Recherche

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