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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Meditationsexpertin erklärt "Wenn Sie damit beginnen, ist erst mal die Hölle los"
Dank Marie Kondos Netflix-Show erlebt Minimalismus gerade einen Hype. Was hinter der Lebensweise genau steckt und warum Loslassen von Besitz so schwer fällt.
Im Schrank stapelt sich Kleidung, in die Sie nicht mehr reinpassen. Das Regal quillt über vor Büchern, die Sie nicht lesen. Und der Keller ist voller Familienerbstücke. Wir besitzen zu viel. Ordnungssysteme wie die Konmari-Methode sollen beim Aufräumen helfen und das Leben entrümpeln. Doch klappt das wirklich? Die Theologin Dr. Sabine Bobert beschäftigt sich seit 2005 mit dem Thema. t-online.de erklärt sie exklusiv, welche Verbindungen es zwischen Besitz und Wohlbefinden gibt – und welche Dinge sie selbst nicht wegschmeißt.
t-online.de: Dr. Bobert, haben Sie schon mal bereut, etwas entsorgt zu haben?
Ja. Ich habe einmal einen Stapel Hosen weggeschmissen, der mir zu klein war. Weil ich mir gedacht habe: Die Wahrscheinlichkeit da wieder reinzupassen, ist so gering, da fällt mir eher eine Raumstation auf den Kopf. Tatsächlich habe ich aber durch meine minimalistische Ernährungsweise, das intermittierende Fasten, so viel abgenommen, dass mir die Hosen wieder gepasst hätten. Rückblickend war das Wegschmeißen der Hosen also eine Fehlentscheidung.
Marie Kondo erlebt gerade mit ihrer Aufräumshow auf Netflix einen großen Hype. Was halten Sie von ihren Methoden?
Ich bin ein Fan, weil es bei Kondo nicht primär ums Wegschmeißen geht. Im Mittelpunkt steht das Prinzip: Behalte nur, was dich glücklich macht und dich als Persönlichkeit stärkt. Kein Gegenstand ist zufällig in unser Leben gekommen, jedes Ding erzählt eine Geschichte. Und mit der Methode von Kondo können wir diese Geschichte abschließen. Die Frage ist aber auch: Wie setzen wir uns selbst Grenzen? Es kann nicht immer weiter gehen mit unseren Besitztümern. Denn viele Dinge sind Mieter, die keine Miete zahlen. Wir müssen wieder hin zu mehr freier Selbstbeschränkung.
Dr. Sabine Bobert ist Professorin für Praktische Theologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. In ihrer Arbeit beschäftigt sie sich neben Mystik und Spiritualität unter anderem auch mit Meditationsforschung. Seit 2005 untersucht sie Minimalismus und wohnt seit etwa einem Jahr selbst nach minimalistischen Grundsätzen.
Ist Minimalismus also nur Verzicht?
Ich definiere Minimalismus als Fokussierung auf das, was uns wirklich glücklich macht und uns in der Wesensentfaltung als Menschen hilft. Für mich ist Minimalismus wie ein Einstrudeln, ein Einrollen und Besinnen: Wir sammeln unsere Energie. Das Gegenteil davon, der Maximalismus, wäre hingegen eine Explosion: Eine kurzzeitige Energiegewinnung, die aber Zerstörung hinterlässt. Statt sich davon leiten zu lassen, was Sie etwa laut Werbung kaufen oder besitzen müssen, stellen Sie sich die Frage: Was ist wichtig und wesentlich für mich?
Wie kann ein Einstieg in den Minimalismus aussehen?
Es beginnt im Geist. Statt hunderttausend Sachen parallel zu machen, fokussiere ich mich im Geist auf eine Sache. Multitasking raubt uns Energie. Ich erforsche, was meine Motivation und meine Beweggründe sind. Nach dieser Klärung des Geistes kann man sich Bereiche im eigenen Leben ansehen, etwa Kleidung, Essen und Einrichtung. Ich habe festgestellt, dass Essen ganz oft eine Ersatzbefriedigung ist, dass wir aus anderen Gründen essen als Hunger. Wenn Sie sich bewusst werden, was Sie wirklich brauchen, dann ist das Entrümpeln kein Verzicht, sondern eine Maximierung. Sie haben mehr Zeit für sich und sind glücklicher. Denn wie Marie Kondo sagt: Es ist ein Glücksgefühl, wenn man Schubladen öffnet und nur umgeben ist, von Sachen, die man liebt.
Warum fällt Menschen das Loslassen von Besitz so schwer?
In erster Linie ist es Angst. Je mehr jemand Angst hat, desto mehr klammert derjenige sich an Besitz. Wir nutzen unsere Besitztümer dann als Schutz. Mein erster Rat ist deshalb: Bauen Sie Selbstbewusstsein auf. Je besser Sie wissen, wer Sie sind und was Sie wert sind, desto besser können Sie Ersatzbefriedigungen und Besitz loslassen.
Steigert sich die Angst nicht, wenn man plötzlich weniger besitzt?
Besitz bedeutet auch Verpflichtungen. Sie müssen sich um Ihre Dinge kümmern, sie pflegen und sie in Ordnung halten. Wenn Sie weniger besitzen, haben Sie mehr Zeit für andere Sachen. Ihre Beziehungen werden etwa wichtiger. Die Angst weicht nach und nach einem Grundvertrauen, das auf einer Erkenntnis fußt: Die Antwort auf Furcht ist nicht mehr Kontrolle und mehr Besitz, sondern Handlungsfähigkeit. Das zeigt sich am besten in unserem Umgang mit der Natur: Statt sich vor ihr zu fürchten und sich vor ihr mit Hilfsmitteln abzuschotten, lernen wir durch den Minimalismus uns selbst zu vertrauen. So kommen wir auch in der Natur besser zurecht.
Sie haben angesprochen, dass Beziehungen wichtiger werden. Hat Minimalismus nur positive Wirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen?
Wenn Sie damit beginnen, ist erst mal die Hölle los. Denn Sie wirken wie ein Verräter an der vorherrschenden Kultur, die ja viel Wert auf Konformität und Konsum legt. Durch Minimalismus werden Sie aber flexibler. Wenn ich etwa merke, dass ich in Freundschaften ständig in Rechtfertigungsdruck gerate oder die Menschen ein Problem mit meinem Lebensstil haben, dann halte ich an diesen Beziehungen auch nicht fest. Gleichzeitig habe ich durch den Minimalismus die Offenheit gewonnen, klar zu sagen, wenn ich mit Menschen in Kontakt bleiben möchte. Ich erlebe Gesellschaft jetzt nicht als Konformitätsdruck, sondern eher als Netzwerk, wo ich etwas einbringen kann. Ich lerne von anderen Menschen, wenn diese einfach so sind, wie sie sind.
Was passiert mit uns, wenn wir anfangen, minimalistisch zu leben?
Bei mir war es so, dass es gerade anfangs schmerzhaft war. Denn ich habe erkannt, warum ich lange Zeit an bestimmten Dingen festgehalten habe. Ich habe etwa viele Fahrräder besessen. Als ich mich damit auseinandergesetzt habe, habe ich erkannt, dass das Ersatzhandlungen waren. Früher habe ich Fahrradtouren auf zum Teil billigen Fahrrädern gemacht. Als ich meine Professur angetreten habe, habe ich mir teurere Räder gekauft, sie aber nicht genutzt. Denn ich hatte zwar Geld, habe aber nicht das Leben gelebt, das ich wollte. Durch das Ausmisten konnte ich erkennen: Du kannst dir noch so viele Fahrräder kaufen, es geht darum zu leben, und nicht zu kaufen. Heute ist mir klar, dass ich Abenteuer erleben möchte und ich lasse mich auch darauf ein.
Unser Besitz steht also stellvertretend für andere Dinge?
Stellen Sie sich die Frage: Warum sind diese Gegenstände in meinem Besitz? Ich habe etwa alte Ölschinken ersteigert. Die lösen eigentlich keine Glücksgefühle aus. Als ich mir die Motive angesehen habe, sah ich aber, dass darauf Szenen von Ruhe und Geborgenheit zu sehen sind. Gefühle, die ich mir nicht gegönnt habe. Andere Stücke habe ich aus Schuldgefühlen behalten. Alte Familienstücke, die anderen Menschen wichtig waren und die ich deshalb nicht wegschmeißen konnte. Kurzum: Besitz spiegelt unsere Charakterzüge wider.
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Gibt es etwas, was Sie niemals entsorgen werden?
Ich habe Lieblings-T-Shirts behalten und freue mich, dass meine Outdoorsachen jetzt in Gebrauch sind. Grundsätzlich sehe ich mich aber nicht als feste Identität, denn ich entwickle mich immer weiter. Ich bin offen für das, was das Leben mir bringt, werde aber auch aktiv, wenn sich mir neue Möglichkeiten zeigen. Insofern kann ich nicht sagen, dass diese Sachen für immer in meinem Besitz sein werden.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Bobert.