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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neue Corona-Strategie "Der offensichtliche Versuch, die Bevölkerung zu beruhigen"
Am Sonntag sollen hierzulande die meisten Corona-Maßnahmen fallen. Die Regierung setzt dann auf das sogenannte "Zwei-Säulen-Modell". Wie sicher ist das? Ein Experte schätzt die neuen Regeln ein.
Am 20. März sollen in Deutschland die meisten Corona-Maßnahmen fallen. Ist das der "Freedom Day"? Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will von dem Begriff nichts hören. Das Coronavirus lasse sich von einem solchen Tag nicht beeindrucken, sagte er jüngst vor Journalisten in Berlin. Er höre häufig, dass das Ende der Pandemie in Deutschland unmittelbar zu erwarten sei – eine Einschätzung, die er "ausdrücklich nicht" teile.
Die Regierung hat eine Neuregelung der möglichen Maßnahmen gegen das Coronavirus beschlossen – das Zwei-Säulen-Modell. Kernpunkte: Die vulnerablen Gruppen sollen weiter mit Masken und Tests geschützt werden. Und: Bei Hotspot-Ausbrüchen stehen den Ländern weitergehende Maßnahmen wie Maskenpflicht, Abstandsgebote, Hygienekonzepte und Regelungen wie 2G und 3G zur Verfügung. Reicht das aus, um mit dem Virus fertigzuwerden? t-online fragte den Mathematiker Kristan Schneider, der die Pandemie modelliert.
t-online: Herr Schneider, was halten Sie vom Zwei-Säulen-Modell der Regierung?
Kristan Schneider: Das Modell ist der offensichtliche Versuch, die Bevölkerung zu beruhigen. Einerseits finden sich die Menschen wieder, denen die Maßnahmen auf die Nerven gehen, andererseits diejenigen, die an kein zu baldiges Ende denken.
Wie wirksam kann das Modell sein?
Da bin ich mehr als skeptisch. Zum einen: Die geänderten Testregeln sind ein Problem. In Dänemark sanken die Zahlen genau in dem Ausmaß, in dem die Tests zurückgingen – der Positivanteil stieg, und vor allem die Krankenhauseinweisungen stiegen auf ein Rekordhoch. Auch die Todesfälle, die dort weiterhin steigen.
Kristan Schneider ist Mathematikprofessor an der Hochschule Mittweida, Sachsen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung epidemiologischer Prozesse.
Was halten Sie von der Hotspot-Regelung?
Da bin ich besonders skeptisch. Hier muss zunächst klargestellt werden, dass genügend getestet wird, sonst erkennt man Hotspots nicht als solche. Wie sieht also die Teststrategie aus? Gibt es verpflichtende Bürgertests zur Querschnittserhebung der Inzidenzen? Grundsätzlich ist ein Säulenmodell nicht unvernünftig, weil es Inzidenz-gestaffelte Maßnahmen bedeutet. Wenn aber unklar ist, wie Inzidenzen erhoben werden, ist das Ganze unvernünftig.
Also ist das Konzept zu lasch?
Ja, wir haben in der Pandemie eines gelernt: Wir können Wellen nicht verhindern, egal wie viele Experten davor warnen. Bei der zweiten Welle war klar, dass sie kommen wird. Die zweite Welle war in Bezug auf die Sterblichkeit die schlimmste Welle. Die hätte verhindert werden können, hätte man nie die Maskenpflicht abgeschafft und im August 2020 sofort härtere Maßnahmen ergriffen.
Wir haben gesehen: Wenn die Inzidenz zu niedrig ist, will niemand vorbeugen. Dasselbe sahen wir in der dritten Welle. Es war klar, dass die Alpha-Variante sich durchsetzen wird, auch mit der Impfung. Hier hätte man die Maßnahmen der zweiten Welle nie lockern dürfen.
Wir laufen dem Virus weiterhin hinterher?
Ja, es wäre auch nötig gewesen, eine Impfpflicht schon im Sommer 2021 zu haben. Das hätte geholfen, die Delta-Welle abzuflachen. Damals glaubte niemand an so eine Welle. Selbst im Dezember, als der Gipfel der Delta-Welle überschritten war, glaubte fast niemand an die Omikron-Welle. Nun wird in der Omikron-Welle derselbe Fehler wieder gemacht. Man hat eine hohe Dunkelziffer und beschließt in dieser Situation Lockerungen.
Das Negativbeispiel Dänemark zeigt, wie man es nicht machen soll. Dort ist die Sterblichkeit auf einem Rekordhoch, genauso die Zahl der Krankenhauseinweisungen. Fast die Hälfte der Todesfälle trat dort in der Omikron-Welle auf, obwohl 95 Prozent der Risikogruppen geimpft sind.
Was fehlt Ihnen im Zwei-Säulen-Modell? Was könnte helfen?
Ein klarer Automatismus und eine Ansage, wie man diesmal tatsächlich frühzeitig gegensteuern will. Bisher fehlte immer der politische Mut, unpopuläre Maßnahmen zeitnah zu ergreifen.
Schockiert bin ich bei dem Konzept über die Aussage "Eine Maskenpflicht könne es auch in öffentlichen Verkehrsmitteln geben". Es müsste heißen, dass eine FFP2-Maskenpflicht im öffentlichen Nah- und Fernverkehr und im Supermarkt selbstverständlich nicht wegfällt.
Welche Maßnahmen sollten nach dem 20. März am Arbeitsplatz gelten – Ihrer Ansicht nach?
Es wäre vernünftig, weiterhin Homeoffice zu forcieren, bis die Inzidenz wirklich niedrig ist – bei circa 100. In Großraumbüros sollten nach wie vor Masken getragen werden und vom Arbeitgeber Tests gefordert werden. Ich denke auch, es ist wichtig, Rücksicht auf diejenigen zu nehmen, die das Virus ernst nehmen. Der Wegfall der Masken in Großraumbüros sollte nur nach anonymer einstimmiger Abstimmung möglich sein.
Wöchentliche Antigentests sollen weiterhin durchgeführt werden. Wichtig ist es, dass Menschen nicht gezwungen werden, gegen ihren Willen ohne Schutzvorkehrungen arbeiten zu müssen.
Glauben Sie, dass sich das durchsetzt?
Ich denke, wir brauchen viele Sensibilisierungskampagnen diesbezüglich. Menschen, die weiterhin Masken tragen wollen, sollten deshalb nicht gemobbt werden – wie das ja durchaus passiert. Trägt man in Sachsen auf der Straße eine Maske, wird man in der Regel angepöbelt.
Ich denke, es muss auch viel mehr auf Abstandsregeln gesetzt werden. 1,5 Meter Respektabstand sollte unbedingt eingehalten werden. Diese Kultur des permanenten Drängelns und Zuleiberückens muss langsam aufhören. Das bedeutet auch, dass man das der Bevölkerung behutsam anerzieht. An der Supermarktkasse geht es nicht schneller, wenn man den Atem des Hintermanns im Nacken spürt.
Herr Schneider, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Kristan Schneider
- Eigene Recherche