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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Notstand Kliniken vergessen hilfswillige Studierende
Intensivbetten können nicht betrieben werden, weil Personal fehlt. Kliniken verschicken dramatische Hilfegesuche. Wieso dümpelt da eine Plattform mit Tausenden hilfswilligen Studierenden der Medizin vor sich hin?
30 Leute sitzen im Krisenstab des Universitätsklinikums Gießen und Marburg. Sie gehen viele Möglichkeiten durch, wie sie kurzfristig mehr Personal als Verstärkung gewinnen können. Sie entscheiden sich für einen Aufruf in den sozialen Medien: "Wir brauchen dringend Eure Unterstützung. An alle Medizinstudierenden: Helft uns helfen!" Es ist ein Aufruf, wie er jetzt von vielen Krankenhäusern kommen könnte.
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Was von den 30 Medizinern und Verwaltungsmitarbeitern offenbar niemand wusste und insgesamt zu wenig bekannt ist: Zu genau diesem Zweck ist im vergangenen Jahr die Plattform match4healthcare entstanden. Mehr als 12.000 Medizinstudierende haben sich dort registriert, um in der Corona-Krise in Kliniken einspringen zu können. Die Plattform könnte auch dem Universitätsklinikum Gießen und Marburg eine Hilfe sein. Frank Steibli, Pressesprecher des Klinikums, bedankt sich für den Hinweis von t-online. "Wir werden das sofort probieren, es hatte niemand auf dem Radar."
Amandeep Grewal, der Initiator von match4healthcare, sieht an den Abrufzahlen seiner Internetseite, wie wenig die Plattform im Bewusstsein ist: "Wir haben fast keinen Traffic, das ist so schade." Ein großes Reservoir an möglichen Helfern – und Krankenhäuser greifen trotz mindestens 25.000 fehlender Pflegekräfte nicht darauf zurück und müssen Betten abmelden?
Woran liegt das? Fehlende Seriosität kann es nicht sein. Die Initiative hatte im vergangenen Jahr reichlich Unterstützung. Nachdem die Idee innerhalb einer Facebook-Gruppe von Medizinstudierenden geboren worden war, wurde die Softwarelösung beim Programmierwettbewerb der Bundesregierung "WirvsVirus" erstellt und weiterentwickelt.
Gesundheitsämter übernahmen Idee
Der Gedanke war, eine zentrale Anlaufstelle zu schaffen, statt nur auf Facebook-Postings oder Aushänge zu vertrauen. Auch Impfzentren oder Gesundheitsämtern sollte das eine Hilfe sein. Nach diesem Vorbild startete der Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdiensts auch die eigenen Aktionen Medis4ÖGD und Studis4ÖGD.
Für Nutzung und Vermittlung auf match4healthcare entstehen Studierenden und Kliniken keine Kosten. Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. klinkte sich ein und unterstützt bis heute. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fand die Idee so gut, dass er im April 2020 den völlig überraschten Grewal anrief und sich bedankte. Grewal bekam auch noch eine Einladung zum Bundespräsidenten.
12.296 Menschen sind aktuell auf der Plattform registriert, das sind noch einmal 2.000 mehr als vor der zweiten Welle im vergangenen Jahr. Die Zahl könnte etwas täuschen, denn nach mehr als anderthalb Jahren des Bestehens der Seite könnten auch etliche Karteileichen darunter sein. Etwas jene Studierende, die keine Zeit mehr haben und sich nicht gelöscht haben, räumt Grewal ein. "Aber es sind dort sicher noch sehr viele, die helfen können und wollen und auf eine Anfrage schnell reagieren."
Weshalb Krankenhausgesellschaft zweifelt
Es hatte ihn beim Start des Projekts überrascht, wie viele gut ausgebildete Menschen Zeit hatten und ihre Hilfe anboten. "Entsprechend vielfältig können auch die möglichen Einsatzgebiete sein. Einrichtungen können auf match4healthcare je nach Bedarf nach entsprechend qualifizierten Helfern in ihrem Umfeld suchen und sie darüber kontaktieren." Die Plattform verschickt die Anfragen dabei gemäß dem Anforderungsprofil, das Einrichtungen eingeben.
Die Anforderungen sind aber aus Sicht eines Sprechers der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) möglicherweise ein Grund, warum die Plattform dennoch bisher nicht rege genutzt wurde. Generell seien die Kliniken froh über jeden, der eine Unterstützung darstelle, so der Sprecher zu t-online. "Aber das können Menschen nur in unterschiedlichem Maße sein." Besonders groß ist die Not in der Intensivpflege, wo Intensivbetten nicht betrieben werden können.
Die Zahlen: Nach Schätzungen der DKG fehlen auf Intensivstationen 8.000 Pflegekräfte. Und während im Krankenpflegebereich insgesamt die Beschäftigtenzahl gestiegen ist, haben sich auf den Intensivstationen die Reihen gelichtet. In fast drei Viertel der deutschen Krankenhäuser mit Intensivbetten arbeiten heute weniger Intensivpflegekräfte als noch am Jahresende 2020.
Aus einer DKG-Umfrage geht hervor: In etwa jeder dritten Klinik sind bis zu fünf Prozent des Intensivpflegepersonals abgewandert, und fast in ebenso vielen Kliniken sogar fünf bis zehn Prozent. Es geht um Kündigungen, interne Stellenwechsel und reduzierte Arbeitszeit. Der DKG-Sprecher: "Grund sind die starken Belastungen durch die Corona-Pandemie." Die Folge: Beispielsweise in Rheinland-Pfalz ist die Zahl der Intensivbetten innerhalb eines Jahres um ein Viertel gesunken, von rund 1.300 auf etwas über 1.000.
Zurückholen aus Elternzeit
Die Kliniken versuchen auf vielfältige Weise, auf die Zuspitzung zu reagieren und das auszugleichen: "Am häufigsten gelingt das, indem Menschen aus der Elternzeit oder Altersteilzeit zurückgeholt werden." Mit Medizinstudierenden sei das nicht so einfach. "Hilfe ist am ehesten dort möglich, wo anderes Personal in den Intensivbereich wechselt und dadurch dort Lücken entstehen." Allerdings wisse die DKG aus Krankenhäusern, dass studentische Mitarbeiter oft mit einigem Aufwand für Einarbeitung und Betreuung verbunden seien.
Grewal kann die Argumentation nur eingeschränkt nachvollziehen: Es sei verständlich, dass man studentische Mitarbeiter nicht in großer Zahl in der Intensivpflege einsetzen könne. Die Plattform biete aber ja auch die Möglichkeit, sehr gezielt nach bestimmten Anforderungsprofilen zu suchen.
Stattdessen auf die aufwendige Einarbeitung und Betreuung zu verweisen, zeige auch ein Grundproblem des Gesundheitswesens. "Man denkt nicht zukunftsorientiert. Wenn man Wert darauf gelegt hätte, vor Monaten studentische Mitarbeiter zu rekrutieren und sich gegen die nächste Welle zu wappnen, hätte man die Problematik weniger." Ihm erscheine es manchmal, als sei auch in dieser Hinsicht wenig aus zwei Jahren Pandemie gelernt worden.
Die Möglichkeiten der Plattform seien offenbar auch kaum in der Branche verbreitet worden. Tatsächlich seien dort auch nicht nur Studierende registriert. Die Plattform könne auch noch viel stärker genutzt werden, um etwa auch Pflegekräfte in Elternzeit effizient mit Krankenhäusern oder Einrichtungen zu vernetzen.
Grewal selbst ist zwar noch mit match4healthcare verbunden, arbeitet aber mittlerweile an einem anderen großen Projekt, mit dem er auch gesellschaftlichen Nutzen verbindet: Die App "Aius" soll einer breiten Bevölkerungsschicht gesicherte medizinische Bildung vermitteln. "Dann haben auch Fehlinformationen und Ängste weniger Raum, die uns in der aktuellen Situation etwa bei der Impfbereitschaft auf die Füße fallen." Aius soll auch helfen, Symptome richtig einzuordnen sowie Prävention und Früherkennung zu stärken.
Irgendwann, so eine Hoffnung, könne auch das dazu beitragen, dass weniger Menschen auf Intensivstationen landen. Aktuell würde das den Kliniken auch sehr helfen.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Telefonat mit Amandeep Grewal
- Anfrage an Deutsche Krankenhausgesellschaft
- DKG: DKI Krankenhaus-Pool: Abwanderungen aus der Intensivpflege