Neuartiges Syndrom MIS-C Immer mehr Kinder leiden unter schweren Covid-19-Folgen
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Erst Corona, dann MIS-C: Immer mehr Kinder landen mit einer gefährlichen Entzündungskrankheit im Krankenhaus. Forscher sehen einen Bezug zu Covid-19. Auf diese Warnzeichen sollten Sie achten.
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Bei Kindern verläuft Covid-19 in der Regel sehr mild oder symptomfrei. Das unterscheidet das Coronavirus klar von der Grippe und anderen Atemwegserkrankungen, die für sie oft besonders riskant sind.
Weltweit wurde inzwischen aber eine schwere Folgeerkrankung beobachtet, die nach überstandener Corona-Infektion auftritt und mit dieser in Zusammenhang stehen soll: Das Multisystem-Entzündungssyndrom – kurz MIS-C – kann einen lebensgefährlichen Verlauf nehmen und noch Wochen nach der Infektion Beschwerden bei Kindern und Jugendlichen hervorrufen. Was steckt dahinter?
Die Abkürzung MIS-C stammt von der englischen Krankheitsbezeichnung "Multisystem Inflammatory Syndrome in Children". Im europäischen Raum ist MIS-C auch unter dem Namen PIMS (Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome) bekannt.
MIS-C: Diese Symptome deuten auf die Krankheit hin
Eines der häufigsten Symptome ist hohes Fieber, das bis zu drei Tage anhalten kann. Außerdem treten laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) immer mindestens zwei weitere Beschwerden auf. Darunter:
- akuter Hautausschlag an Händen, Füßen oder im Mund
- beidseitige Bindehautentzündung
- geschwollene Lymphknoten
- Magen-Darm-Probleme wie Durchfall, Erbrechen und Bauchschmerzen
- Schmerzen hinter dem Brustbein beispielsweise durch eine Funktionsstörung des Herzmuskels, eine Entzündung des Herzbeutels oder der Herzklappen
- starker Blutdruckabfall
Nach Angaben der WHO treten die Symptome in der Regel zwei bis vier Wochen nach der Corona-Infektion auf. Von Ärzten und Forschern wird angenommen, dass die körpereigene Immunabwehr auf das Coronavirus SARS-CoV-2 überreagiert und heftige Entzündungsreaktionen im ganzen Körper in Gang setzt. Bei schweren Fällen kann sich das Syndrom auf das Herz auswirken, sodass die Kinder ins Krankenhaus eingewiesen und auf der Intensivstation versorgt werden müssen.
MIS-C tauchte schon in der ersten Corona-Welle auf
Bereits im Frühjahr 2020 war MIS-C in Großbritannien aufgetaucht. Ähnliche Fallberichte gab es anschließend in Ländern mit hohen Infektionszahlen wie etwa den USA. Betroffen waren Kinder und Jugendliche unter 21 Jahren. Viele von ihnen waren vorher gesund und hatten einen symptomfreien Corona-Verlauf. Noch immer sind es sehr wenige Fälle – verglichen mit der Gesamtzahl an Corona-Infizierten. Doch die Zahlen steigen auch aktuell wieder und schwere Verläufe werden häufiger.
Wie die britische Tageszeitung "The Guardian" kürzlich berichtete, habe die zweite Corona-Welle in Großbritannien zu einem deutlichen Anstieg der MIS-C-Fälle geführt. Seit Anfang Januar 2021 seien demnach jeden Tag zwischen 12 und 15 Kinder an dem neuartigen postviralen Syndrom erkrankt.
Zudem müssten inzwischen mehr Kinder aufgrund von MIS-C im Krankenhaus behandelt werden. Jede Woche würden in Großbritannien bis zu 100 Kinder mit Verdacht auf MIS-C eingeliefert. Im April 2020 seien es nur etwa 30 Patienten pro Woche gewesen. Diese starke Zunahme sei vermutlich auf die höheren Fallzahlen durch die Coronavirus-Variante B.1.1.7 zurückzuführen.
Postvirales Syndrom: In Deutschland mehr Fälle gemeldet
Auch in Deutschland ist die Zahl der MIS-C-Fälle im Vergleich zur ersten Welle der Pandemie gestiegen. Das zeigen Daten der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI), die ein Meldetool für MIS-C/PIMS eingerichtet hat.
Der bisherige Höchststand ist demnach Anfang Dezember 2020 mit 18 Krankheitsfällen erreicht worden. Zum Vergleich: Im Frühjahr 2020, während der ersten Corona-Welle, lag der Höchstwert noch bei fünf Fällen. 60 Prozent der Kinder mussten laut DGPI auf der Intensivstation behandelt werden. Berichte über Todesfälle im Zusammenhang mit der Kinderkrankheit gibt es in Deutschland bislang nicht.
"Da PIMS in einem gewissen zeitlichen Abstand nach einer akuten SARS-CoV-2-Infektion auftritt, werden diese Zahlen in den nächsten Wochen auch noch etwas ansteigen", sagte Jakob Armann von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Dresden dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Dennoch bleibe PIMS eine relativ seltene Erkrankung, die sich zudem in den allermeisten Fällen gut behandeln lasse, so Armann.
Dass die aufgetretene Virusvariante B.1.1.7 die Situation in Deutschland verschärfen könnte, schließt der Kinderarzt aus: "Es gibt bisher keine belastbaren Daten, dass die britische Mutation B.1.1.7 zu schwereren Verläufen oder zu einem häufigeren Auslösen eines PIMS bei Kindern führt."
Viele Forschungsfragen noch ungeklärt
Die Frage, ob mit steigenden Corona-Infektionszahlen tatsächlich auch vermehrt Komplikationen bei Kindern auftreten, lässt sich demnach nicht beantworten. Generell ist nicht abschließend geklärt, dass eine Infektion mit SARS-CoV-2 der Auslöser für die Krankheit ist. Ein Zusammenhang erscheine aber plausibel, heißt es von der europäischen Gesundheitsbehörde ECDC. Es handle sich aber um eine seltene Erkrankung, deren Verbindung zu Covid-19 noch nicht gut verstanden werde.
Experten mahnen aber, für das Thema sensibilisiert zu bleiben. Die Gesellschaft für Intensivpflege von Minderjährigen (PICS) rief Ärzte dazu auf, genau auf Symptome bei Kindern zu achten, die einem toxischen Schock ähnelten.
Über mögliche Langzeitfolgen der Krankheit ist ebenfalls nicht viel bekannt. Ein US-amerikanisches Forscherteam hat in einer in der Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlichten Studie herausgefunden, dass MIS-C Schäden am Herzen verursachen kann. Die Krankheit müsse daher frühzeitig erkannt und behandelt werden, warnen die Studienautoren.
Frühere Studien zeigten Häufung bei ethnischen Gruppen
Im Juni 2020 untersuchten Wissenschaftler das MISC-Syndrom und fanden eine besondere Auffälligkeit: Etwa 75 Prozent der in Großbritannien stark betroffenen Kinder seien dunkelhäutig, asiatischer Herkunft oder einer ethnischen Minderheit zugehörig gewesen. Die Ergebnisse wurden im englischsprachigen Fachblatt "New England Journal of Medicine" veröffentlicht.
Auch die US-Gesundheitsbehörde CDC berichtete damals, dass in den USA bei etwa 70 Prozent der gemeldeten Fälle Kinder von hispano-/lateinamerikanischer Herkunft oder dunkelhäutige, nicht-hispano-amerikanische Kinder betroffen waren. Warum manche Bevölkerungsgruppen eher erkranken als andere, ist bisher noch nicht geklärt.
Gemeinsamkeiten zwischen MIS-C und Kawasaki-Syndrom?
Bei den ersten Fällen des Syndroms zu Beginn der Pandemie waren Mediziner davon ausgegangen, dass es sich bei den Symptomen, welche die Kinder zeigten, um die Kawasaki-Krankheit handelte. Sie zeigt ein ähnliches Krankheitsbild wie MIS-C, ist aber schon lange vor der Corona-Pandemie bekannt gewesen. Weltweit gibt es mehr als 6.000 Fälle pro Jahr.
Das Kawasaki-Syndrom und das Multisystem-Entzündungssyndrom unterschieden sich aber vor allem graduell. Bei MIS-C fallen die Entzündungsreaktionen heftiger aus und es kann mehr Organe befallen, während Kawasaki in den meisten schweren Fällen das Herz-Kreislauf-System angreift.
Ein weiterer Unterschied: An der Kawasaki-Krankheit leiden insbesondere Säuglinge und Kleinkinder bis fünf Jahre. Von MIS-C hingegen sind Kinder und Jugendliche bis etwa 21 Jahre betroffen. Zu beiden Erkrankungen ist noch immer viel Forschung nötig.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Weltgesundheitsorganisation (WHO)
- Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI)
- Gesellschaft für Intensivpflege von Minderjährigen (PICS)
- RND: "Kinderkrankheit MIS-C: Zweite Corona-Welle sorgt für starken Fallanstieg in Großbritannien", 19. Februar 2021
- Eigene Recherche