Interview "Die Magersucht war meine beste Freundin"
Magersucht
Frage: Wie kann diese verzerrte Wahrnehmung funktionieren: Man wiegt 31 Kilo und findet sich noch zu dick?
Blumroth vom Lehn: Das hört sich komisch an, aber es ist wirklich so. Und je dünner man ist, desto schlimmer ist die Wahrnehmung. Es muss irgendetwas mit dem Gehirn zu tun haben. Ich kann es mir selber nicht erklären.
Frage: Können Sie den Verlauf Ihrer Krankheit skizzieren? Ab wann hat die Entwicklung hin zu einem gestörten Verhältnis zum Essen begonnen?
Blumroth vom Lehn: Es begann Ostern 2008, zu diesem Zeitpunkt war ich 16 Jahre alt. Mein leiblicher Vater war gestorben, der Kontakt zu meinem Adoptivvater war sehr schlecht, und ich hatte Angst, meine Mutter zu verlieren, weil sie einen anderen Mann kennengelernt hatte. Zu dieser Zeit war ich wahnsinnig unzufrieden und unglücklich mit meinem Leben und kam dann auf die Idee, dass das nur damit zusammenhängen könne, dass ich hässlich und zu dick sei. Also habe ich angefangen, viel mehr Sport zu treiben und viel weniger zu essen. Das tat mir zunächst unglaublich gut und deshalb dachte ich, dass dies die Lösung meiner Probleme sei.
Das hat alles ganz locker angefangen, doch irgendwann wurde es zwanghaft und ich habe es nicht mehr gemacht, um zufrieden zu sein und mich gut zu fühlen, sondern weil ich ohne Sport und den Verzicht auf Essen nicht mehr leben konnte.
Frage: Magersüchtige gelten oft als perfektionistisch. Teilen Sie diese Auffassung und woher kommt Ihrer Meinung nach dieser starke Wunsch nach Kontrolle über den eigenen Körper?
Blumroth vom Lehn: Dem stimme ich vollkommen zu. Ich war nie zufrieden mit mir, egal was ich gemacht habe. Den Perfektionismus lege ich aber schon mein ganzes Leben an den Tag - auch heute noch. Der starke Wunsch nach Kontrolle über den eigenen Körper kommt daher, weil man denkt, dass es das Einzige ist, was man wirklich gut kann. Deshalb ist die Kontrolle über den eigenen Körper wie eine Droge. Diese Kontrolle lässt einen sich anderen gegenüber überlegen fühlen. Nach dem Motto: Ha! Ich kann verzichten und bin kontrolliert und du nicht!
Frage: An welchem Punkt ist Ihrer Meinung nach die Grenze zwischen kontrollierter Ernährung und Krankheit überschritten?
Blumroth vom Lehn: Ich glaube, dass fast jeder Mensch im Leben Phasen hat, in denen er kontrolliert isst. Genauso gibt es auch Menschen, die ihr Leben lang kontrolliert essen, die aber trotzdem Spaß daran haben und ihre Mahlzeiten genießen können. Die Grenze ist meiner Meinung nach überschritten, wenn einem das Essen Angst bereitet und man sich trotz Untergewichts zu dick findet.
Frage: Wann haben Sie bemerkt, dass Ihre Körperwahrnehmung und Ihr Verhältnis zum Essen nicht gesund sind? Gab es ein Schlüsselerlebnis?
Blumroth vom Lehn: Ich glaube, dass es ein langer Prozess ist, bis einem klar wird, dass man ein Problem hat. Meine Freunde und meine Familie haben mich auf die Veränderungen angesprochen und sich große Sorgen gemacht, es wurde sehr viel geweint in dieser Phase. Der Ernst der Situation wurde mir aber vor allem dadurch bewusst, dass ich plötzlich völlig irrationale Ängste entwickelte. Ich hatte Angst vor der Schule, Angst vorm Aufstehen morgens, Angst vor der Zukunft, Angst vor Berührungen und natürlich panische Angst vorm Essen und Dickerwerden.
Doch die größte Angst hatte ich vor den Auseinandersetzungen am Esstisch. Ein Schlüsselerlebnis war, als ich heulend vor einer trockenen Scheibe Knäckebrot saß und meine Mutter mich anflehte, doch wenigstens dieses Knäckebrot zu essen. Sie brach dann auf dem Boden zusammen und in diesem Moment wurde mir klar: Hanna, du bist nicht normal, du brauchst dringend Hilfe!
Frage: Aber Sie haben anfangs einen Klinikaufenthalt verweigert. Warum?
Blumroth vom Lehn: Ich wollte nicht gesund werden. Ich hatte immer Angst davor, die Magersucht loslassen zu müssen. Außerdem wollte ich auf keinen Fall zunehmen. Ich hatte das Gefühl: Wenn du jetzt in die Klinik gehst und zunimmst und deine Kontrolle abgibst, bist du danach ein Nichts. Die Magersucht war für mich das Einzige in meinem Leben, das mir Halt gab.
Frage: Wieso haben Sie sich schließlich doch dazu entschlossen, sich ärztliche Hilfe zu suchen?
Blumroth vom Lehn: Es gab eine Zeit, da habe ich mich sehr nach dem Tod gesehnt. Mir wäre es egal gewesen, tot zu sein, aber ich wollte es meinem Umfeld nicht antun. Ich habe es also für meine Familie und meine Freunde getan. Erst im zweiten Schritt habe ich überlegt, es auch für mich zu tun und dachte, dass die Klinik wahrscheinlich der letzte Ausweg ist, nicht zu sterben. Erst als ich wieder mehr Freude empfinden konnte und auch andere Bedürfnisse neu geweckt wurden, habe ich mich wieder nach dem Leben gesehnt.
Frage: Konnten die Eltern es überhaupt verantworten, so lange zu warten?
Blumroth vom Lehn: Meine Eltern haben so schnell es ging eingegriffen. Ich habe Ihnen jedoch immer wieder vorgegaukelt, dass ich es alleine schaffen würde. Ab einem gewissen Punkt konnten sie nicht mehr warten, weil ich bereits volljährig war. Dann hätten sie mich zwangseinweisen lassen müssen und auch das ist ein schwieriger Prozess. Denn wer lässt schon gern sein Kind entmündigen?
Frage: Wie hat es sich auf Ihre Familie und Ihre Freunde ausgewirkt, dass Sie magersüchtig wurden? Wie gehen Ihre Bezugspersonen heute damit um?
Blumroth vom Lehn: Mein Verhältnis zu Freunden und Familie hat sich durch die Krankheit total verändert. Es war keine normale Unterhaltung mehr möglich, weil ich immer im Mittelpunkt stand und meine Freunde und Familie immer versucht haben, mir bewusst zu machen, dass ich Hilfe brauche. Gespräche endeten entweder im Schreien oder im Weinen.
Heute ist es anders: Meine Familie und meine Freunde wissen, dass ich zwar immer noch magersüchtig bin, inzwischen aber besser damit umgehen kann. Außerdem haben sie gemerkt, dass sie mir nicht helfen können. Sie können mich unterstützen, aber den Schritt in die Gesundheit muss ich selber gehen - und gerade die Normalität, auch im Umgang miteinander, hilft mir dabei am meisten.
Frage: Was haben Sie in Therapie gelernt?
Blumroth vom Lehn: In der Therapie habe ich viel gelernt, aber ich konnte leider wenig davon anwenden. Es ist etwas anderes ob man in einer Klinik ist oder zu Hause. Sobald man auf sich gestellt ist, vergisst man all das schnell wieder. Aber der Umgang mit anderen Kranken hat mir sehr geholfen weil einem verdeutlicht wird, dass man es schaffen kann.
Frage: Viele Experten finden, das Umfeld müsse mittherapiert werden Sie betonen, es alleine geschafft zu haben. Wie ist das zu verstehen?
Blumroth vom Lehn: Das habe ich eigentlich nicht betont. Ganz im Gegenteil. Man kann es gar nicht alleine schaffen und ich habe es auch leider noch lange nicht geschafft.
Frage: Inwiefern bestimmt die Krankheit heute noch Ihr Leben?
Blumroth vom Lehn: Ich habe immer noch das Verlangen, dünner zu sein und weniger zu essen, doch ich habe auch gelernt, auf die lebensnotwendigen Bedürfnisse meines Körpers zu achten und sie wahrzunehmen. Ich wache jeden Morgen auf und denke als allererstes an meinen Bauch und ertaste, ob er vielleicht über Nacht dicker geworden ist. Auch mein Essverhalten ist noch sehr eingeschränkt.
Aber ich versuche, so weit wie möglich ein normales Leben zu leben und mir schöne Dinge vorzunehmen, um mich etwas abzulenken. Ich überwinde mich, auf Partys zu gehen, auch wenn ich eigentlich keine Lust habe und merke im Nachhinein, dass ich für eine kurze Zeit nicht ans Essen gedacht habe. Außerdem habe ich manchmal das Bedürfnis, einen Freund zu haben oder eine beste Freundin. In der Hochphase meiner Krankheit war die Magersucht meine beste Freundin.
Ich glaube es mir sehr helfen, demnächst mein Studium zu beginnen. Das bringt wieder etwas mehr Normalität und andere Schwerpunkte in mein Leben.
Frage: Bei der Suche nach den Auslösern geht man immer von den Klischees aus: Casting-Shows, dünne Models, Diätwahn - wie war das bei Ihnen?
Blumroth vom Lehn: Bei mir hatte es ziemlich viel mit der Vaterfigur zu tun. Auf keinen Fall hatten Modelbilder einen Einfluss auf die Entstehung meiner Magersucht. Ich glaube, das ist auch eher selten der Auslöser für diese Krankheit. Ich muss allerdings gestehen, dass diese vermeintlichen Schönheitsideale auch nicht gerade zu meiner Genesung beigetragen haben. Als ich bereits krank war, habe ich mich immer gefragt, warum gerade ich zunehmen soll, während die Models dünn sein dürfen. Das habe ich nicht eingesehen. Ich habe mich also immer mit Dünneren verglichen, um einen Grund zu finden, nicht zuzunehmen. Dass ich aber meistens sogar dünner als diese Vorbilder war, ist mir durch meine verzerrte Selbstwahrnehmung gar nicht bewusst gewesen.
Frage: Im Internet existieren Foren, in denen sich Magersüchtige vernetzen, austauschen und in ihrem Schlankheitswahn gegenseitig bestärken, sogar miteinander wetteifern. Haben Sie selbst solche Foren besucht? Was halten Sie davon?
Blumroth vom Lehn: Ich finde es ganz schrecklich und sehr gefährlich, sich gegenseitig anzustacheln. Ich muss allerdings zugeben, dass auch ich mich für kurze Zeit in diesen Foren bewegt habe. Wenn man allerdings jeden Tag in die weinenden Augen einer sehr guten Freundin oder der Familie schaut, kann man unmöglich längere Zeit in solchen Foren aktiv sein.
Frage: Würden Sie sagen, Sie haben sich trotz aller Schwierigkeiten mit Ihrem Körper ausgesöhnt?
Blumroth vom Lehn: Ich glaube, es ist noch ein langer Weg, um vollkommen ausgesöhnt zu sein mit meinem Körper. Es ist ein ewiges Hin und Her. Wie mit einer guten Freundin, die einem auch mal die Meinung geigt. Man hat Streit mit seinem Körper und hasst ihn, und an manchen Tagen versöhnt man sich und gönnt ihm etwas Gutes. Ich hoffe allerdings so sehr, dass ich irgendwann das Kriegsbeil begraben kann und einfach zufrieden mit mir bin, wie ich bin!
Buchtipp: Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn, Kontrolliert außer Kontrolle. Das Tagebuch einer Magersüchtigen, 352 Seiten, Taschenbuch,9,95 EUR (D), ISBN 978-3-86265-199-3, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2012.
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- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.