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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grafiker der Olympischen Spiele 1972 Er machte mit Farben Politik
Die Olympischen Spiele in München vor 50 Jahren gingen als die "heiteren Spiele" in die Geschichte ein. Verantwortlich dafür war vor allem das Design des Grafikers Otl Aicher.
Design ist mehr als nur das ästhetische Gestalten von Dingen. Design bildet stets auch den Zeitgeist ab. Eine Prämisse, die im Besonderen auf die Arbeit Otl Aichers für die 20. Olympischen Sommerspiele der Moderne 1972 in München zutrifft. 36 Jahre nach den Olympischen Spielen unter dem Hakenkreuz in Berlin 1936, 27 Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reichs und 23 Jahre nach Gründung der demokratischen Bundesrepublik modernisierte der 1922 geborene Grafiker von der Schwäbischen Alb Deutschlands Wahrnehmung in der Welt auf radikale Weise.
Schon vor seinem Antritt als Gestaltungsbeauftragter der Münchner Spiele hatte Aicher einen internationalen Ruf als Modernist erlangt: als Mitgründer der Volkshochschule (vh) sowie der Bauhaus-inspirierten Hochschule für Gestaltung (hfg) Ulm, durch seine Arbeiten für deutsche Großunternehmen wie BASF und Braun, die deutsche Klischees mit modernem Informalismus und Laissez-faire zusammenbrachten. Auch seine Vergangenheit als Unterstützer der Widerstandsgruppe Weiße Rose – seine spätere Ehefrau Inge Aicher-Scholl war die Schwester der ermordeten Hans und Sophie Scholl – manifestierten seinen Ruf als liberaler Geist in der noch jungen Bundesrepublik.
Aichers Wahl erzürnte konservative Kräfte
Diesem Geist verdankte Aicher die Berufung zum Gestaltungsbeauftragten der Olympischen Spiele 1972 durch das Nationale Olympische Komitee (NOK). Sein Auftrag lautete nicht weniger als das Erschaffen des "ganzheitlichen Designs der Spiele". Ein enormer Schaffensbereich, trug er schließlich auch landschaftsgärtnerische, stadtgestalterische und selbst sicherheitspolitische Entscheidungen mit. Eine Machtfülle, die besonders konservativen Kräften missfiel. Sie warfen ihm unter anderem vor, seine für die Spiele ausgewählte Schrifttype Univers sei "keine deutsche Schrift". Auch vor noch so infantilem Verhalten machten seine Kritiker nicht Halt, wie der "Spiegel" in einer Ausgabe aus 1968 konstatierte: "Und als der Ulmer Industriegestalter auf 100 Schautafeln seine Gesamtkonzeption vorstellte, kehrten ihm die verdrossenen Olympia-Organisatoren während des Vortrags demonstrativ-trotzig den Rücken – nicht einmal hinsehen wollten sie."
Aichers Gegner dachten genau in den Kategorien, die er in seiner Arbeit seit jeher negierte: Nationalismus, Patriotismus, Folklore, Tradition, Pathos, Stolz. Dass sein "Vorschlag zur Gesamtkonzeption für das visuelle Erscheinungsbild" im Mai 1968 einstimmig vom NOK angenommen wurde, dürfte er genüsslich zur Kenntnis genommen haben, zeigte es doch, wie wenig Einfluss seine Kritiker schlussendlich hatten. Dass es aus seinem vielschichtigen Potpourri an Arbeiten für München 1972 die simplizistischen Piktogramme sind, die sein zeitloses Erbe der "heiteren Spiele" wurden, könnte ihn schon eher verblüfft haben.
Denn ausgerechnet die Piktogramme, die Jahrzehnte nach dem Ende der Münchner Olympiade noch immer in Sportstätten und anderen öffentlichen Räumen auf der ganzen Welt genutzt werden, waren keine genuine Erfindung Aichers. Sie sind vielmehr die Weiterentwicklung der für die Tokioter Spiele 1964 entstandenen Symbole Masaru Katsumis.
Aicher gestaltete die Olympischen Spiele so inklusiv wie möglich
Aicher sah in den Olympischen Spielen mehr als nur eine Ansammlung sportlicher Wettkämpfe; er sah in ihnen ein Festival der Menschlichkeit, zu dem er sowohl Athleten als auch Besucher durch die grafische Gestaltung einzuladen suchte. Durch die verfeinerte Simplizität der 64er-Piktogramme wollte er selbst Analphabeten diese Einladung aussprechen, das Geschehen im Münchner Olympiapark so inklusiv wie möglich verständlich machen. Für ihn stand fest, dass das Gegengewicht zur zunehmenden Komplexität in der modernen Welt in einer interkulturell verständlichen Bildsymbolik zu finden sei.
Sein Streben nach Völkerverständigung und Demokratie werden in seinen eigenen Worten zum Nutzen der Piktogramme deutlich: "Diese Menschenmassen müssen durch begrenzte Areale mit nach Plätzen begrenzten Ausstellungspavillons oder Stadien und Tribünen geführt werden. Piktogramme erweisen sich unter diesen Umständen als besonders geeignet für die Aufgabe der Information und die Wegeleitung, da sie sprachunabhängig sind."
Um diese interkulturelle Verständlichkeit bestmöglich zu erreichen, nutzte Aicher Kulminationspunkte der jeweiligen Sportarten, um die dargestellten Bewegungen so natürlich wie möglich im Symbolhaften wiedergeben zu können. Trotz der Systematisierung durch genormte Rastermuster war ihm eine Natürlichkeit in den festgehaltenen Bewegungsabläufen wichtig. Mit seiner Lösung, Körper in Bewegung zu zeigen, grenzte er sich zudem bewusst von der statisch-monumentalen Ästhetik der Berliner Spiele von 1936 ab. Megalomanie war Aicher fremd und suspekt.
Für ihn war die "Welt, in der wir leben, [...] die von uns gemachte Welt." In diesem Satz aus seiner Standardschrift "Die Welt als Entwurf" spiegelt sich das auf die Piktogramme angewandte Selbstverständnis Aichers wider. Wir, die Menschen, entwerfen, verwerfen und halten die Welt fest, in der wir leben wollen. Durch eigene Entscheidungen gestalten wir die Lebensrealität. So sah Aicher auch die Olympischen Spiele von München als Möglichkeit eines neuen Weltentwurfs und entschied sich dafür, sie radikal frei zu gestalten. Konkret gesprochen: Nichts an der grafischen Erscheinung Münchens 1972 sollte an den berüchtigten Berliner Vorgänger erinnern.
"Mit Farben kann man Politik machen" – davon war Aicher überzeugt
Statt machtkonnotierter Farben – wie Rot, Braun, Schwarz, Gold – setzte Aicher eine Farbpalette um die Kernfarben Himmelblau und Grün ein. Dieses Spektrum verlieh Olympia in München den Beinamen "Regenbogenspiele" – und ermöglichte es, dass Deutschland plötzlich nicht mehr als "nationalistisch", sondern "erfrischend" wahrgenommen wurde.
Bei der Wahl der Kernfarbe der olympischen Farbpalette machte sich Aicher Meinungsforschungsergebnisse zunutzen, die Himmelblau als populärste Farbe Bayerns identifiziert hatten. Für Himmelblau sprach darüber hinaus, dass es eine zentrale Rolle in der bayerischen Landesflagge einnimmt – und somit auch Traditionalisten und Folkloristen besänftigt wurden. Aicher selbst stellte lieber den Zusammenhang zur bayerischen Landschaft denn zur Landesflagge her: So symbolisiere das gewählte Blau die Farbe der Seen und der alpinen Silhouetten am Horizont der Stadt.
"Mit Farben kann man Politik machen" – davon war Otl Aicher überzeugt. Und München 1972 waren die "politisch intensivsten aller modernen Spiele" – davon ist wiederum der Historiker und Autor David Clay Large überzeugt. Wohl auch, weil Aicher seine Farbkodierung der "heiteren Spiele" so clever für sein oberstes Ziel nutzte: eine neue deutsche Kultur zu begründen. Er entdeckte für sich, dass der Mensch nur das sieht, "was uns die Kultur als sehenswert aufbereitet." Es ist also auch Aichers Werk, dass wir in Deutschland den Regenbogen als sehenswert betrachten.
- Otl Aicher, Martin Krampen: "Zeichensysteme der visuellen Kommunikation", Stuttgart, 1977.
- Eva Maria Modrey: "Architecture as a mode of self-representation at the Olympic Games in Rome (1960) and Munich (1972), in: "European Review of History", Ausgabe 15:6 2008, S. 691-709.
- Günther Sandner: "Demokratisierung durch Bildpädagogik", in: "SWS Rundschau", Ausgabe 4 2008, S. 463-484.
- Kay Schiller, Christopher Young: "Motion and landscape: Otl Aicher, Günther Grzimek and the graphic and garden design of the 1972 Munich Olympics", in: "Urban History", Ausgabe 37 (2) 2010, S. 272-288.
- Kay Schiller, Christopher Young: "The 1972 Munich Olympics and the Making of Modern Germany", Berkeley, 2010.
- David Clay Large: "Munich 1972: Tragedy, Terror, and Triumph at the Olympic Games", Plymouth, 2012.
- Otl Aicher: "die welt als entwurf", Berlin, 2015.
- Der Spiegel, Ausgabe 8 1968, "Zank ums Zelt", S. 132-135)
- Der Spiegel, Ausgabe 31 1972, "Wir sind da so hineingeschlittert", S. 28-38.