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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bayern-Torwart verteidigt Nationalelf "Ich habe bisher genau zwei Spiele geschaut"
Mit ihren Auftritten bei der WM in Katar sorgt die DFB-Elf für Diskussionen – auf und neben dem Platz. Bayern-Profi Sven Ulreich verteidigt die Kollegen.
Beim FC Bayern ist Sven Ulreich der Vertraute und Vertreter von DFB-Keeper und -Kapitän Manuel Neuer. Vor der WM 2018 in Russland war er als Nationaltorhüter im Gespräch.
Gleich sieben seiner Teamkollegen vom FC Bayern gehören nun zum deutschen WM-Kader. Auch Bundestrainer Hansi Flick kennt der 34-Jährige aus der gemeinsamen Zeit in München bestens.
Vor dem wichtigen Costa-Rica-Spiel spricht Ulreich im Interview mit t-online unter anderem über die extremen Leistungen und Bewertungen der deutschen Mannschaft, die Bedeutung des Bayern-Blocks sowie die viel diskutierte Kritik an Katar.
t-online: Herr Ulreich, Sie haben trotz der WM-Pause beim FC Bayern quasi durchtrainiert. Verraten Sie uns, warum?
Sven Ulreich: Meine Tochter geht in die Schule. Da war nichts mit Urlaub. Dann habe ich zwei, drei Mal die Woche mit Tapa (Torwarttrainer Toni Tapalovic; Anm. d. Red.) trainiert. So bleibt man drin, und wir haben ja noch eine längere Pause, wenn wir dann in zwei Wochen in den Winterurlaub gehen.
Die Nicht-WM-Teilnehmer sind nun wieder ins Training bei Bayern eingestiegen. Welchen Eindruck machen Mathys Tel und speziell Ryan Gravenberch, die auf eine WM-Nominierung gehofft hatten?
Es sind noch junge Spieler. Wenn sie ihren Weg weitergehen, werden sie mit Sicherheit an großen Turnieren teilnehmen. Da muss man sich keine Gedanken machen. Ich leide aber mit Lucas (Hernández; Anm. d. Red.) und Sadio (Mané; Anm. d. Red.), deren schwere Verletzungen einfach sehr, sehr bitter sind.
Hernández erlitt in Katar einen Kreuzbandriss, Mané verpasste die WM aufgrund einer Wadenverletzung …
Du arbeitest vier Jahre auf so ein Turnier hin – und dann verpasst du all diese tollen Erfahrungen. Da ist der Fußball leider manchmal echt hart. Lucas hatte sich gerade erst zurückgekämpft. Aber wir werden die beiden hier als Mannschaft auffangen und unterstützen, damit sie schnellstmöglich wieder gestärkt zurückkommen. Hier sind sie in besten Händen.
Wie intensiv haben Sie die WM bislang verfolgt?
Ich habe bisher genau zwei Spiele komplett geschaut: Deutschland gegen Spanien und Deutschland gegen Japan.
Warum?
Es liegt erstens ein bisschen an den Uhrzeiten, und zweitens bin ich auch einfach mal froh, mich mit etwas anderem beschäftigen zu können.
Und wie bewerten Sie die beiden deutschen Spiele?
Nach dem Japan-Spiel wurde die öffentliche Kritik gleich laut. Das kann ich nicht ganz verstehen, weil es eigentlich eine gute Leistung war. Sie haben nur die Chancen nicht genutzt und hinten zwei Fehler gemacht. Es wurde schnell alles schlechtgeredet, das ist vielleicht ein bisschen ein deutsches Phänomen. Natürlich müssen wir jetzt gegen Costa Rica gewinnen und stehen unter Druck. Gegen Spanien haben wir aber eine Topleistung geliefert. Die Nationalelf ist auf einem guten Weg und wird sich weiter steigern. Der Zeitpunkt des Turniers ist eben nicht optimal.
Sie meinen, mitten in der Saison?
Ja, da hast du dann eine Woche Vorbereitungszeit. Da ist es nicht einfach, Rhythmus und Spielverständnis zu entwickeln – und das sieht man bei der WM. Da ist man nicht so eingespielt wie bei anderen Turnieren.
Hilft es da nicht, dass sieben Ihrer Teamkollegen einen großen Bayern-Block in der Nationalelf bilden?
Absolut. Diese große Chance kann man nutzen, um einen eingespielten Kern zu haben. Man hat im zweiten Spiel gesehen, dass mit Leon und Josh (Goretzka und Kimmich, Anm. d. Red.) im Mittelfeld eine andere Dynamik und Spielverständnis da waren.
Die Führungsspieler der Nationalelf sind mit Manuel Neuer, Thomas Müller, Kimmich und Goretzka ja auch die gleichen. Welche Bedeutung hat das?
Es ist immer wichtig, wenn man mit Manu einen Torhüter hat, der Weltklasse hält und auch noch eine Führungsfigur ist. Das macht er hier im Verein super und genauso als Kapitän der Nationalelf. Thomas ist auf dem Platz sehr aktiv und spricht auch dort viel. Es ist wichtig, dass die Achse – auch mit Josh und Leon – kommunikativ sehr stark ist. Das braucht man bei einer WM.
Die starken Auftritte von Jamal Musiala bei der WM dürften Sie nicht groß überraschen, oder?
Nein. Jamal ist ein Ausnahmetalent. Er ist für sein Alter schon sehr, sehr weit. Was er am Ball kann, ist außergewöhnlich. Das zeigt er auch bei der WM. Ich hoffe, dass er noch ein paar WM-Spiele bekommt, in denen wir noch mehr und vielleicht auch ein paar Tore von ihm sehen werden.
Wie optimistisch sind Sie, bald ein paar Weltmeister in München empfangen zu können?
Nach dem Japan-Spiel hat gefühlt ganz Deutschland auf dem Team rumgehackt. Das kann eine Mannschaft aber auch zusammenschweißen. Gegen Spanien war eine "Jetzt-erst-recht"-Einstellung zu erkennen. Nach dem Motto: "Wir machen unser Ding." Das fand ich super, und dieser Spirit kann sich in so einem Turnier immer weiterentwickeln. Du kommst in einen gewissen Flow. Und am Ende stehst du vielleicht im Finale und kannst den Pokal hochhalten. Das wünsche ich vor allem meinen sieben deutschen Teamkollegen, aber ich freue mich auch für jeden anderen, der als Weltmeister zurückkommt.
Sie kennen Hansi Flick, mit dem Sie und der FC Bayern 2020 das Champions-League-Turnier gewannen. Was zeichnet ihn als Turniertrainer aus?
Er ist menschlich mit der beste Trainer, den ich kennengelernt habe. Weil er viel mit den Spielern spricht, das Team zusammenschweißen kann. Ein sehr guter Kommunikator, auch fachlich top. Deshalb ist er für mich die Ideallösung als Nationaltrainer und genau der Richtige für diese Situation. Auch seine Arbeit wurde nach dem Japan-Spiel von einigen komplett infrage gestellt. Das fand ich vorschnell und nicht angebracht.
Was genau meinen Sie?
In Deutschland neigen wir meiner Meinung nach dazu, die Dinge immer zu schnell zu negativ zu sehen. Das betrifft viele Lebensbereiche.
Auch die WM in Katar wird in Deutschland – aber auch international – sehr kritisch gesehen und auf Menschenrechtsverletzungen sowie andere Missstände hingewiesen. Neben den sportlichen Themen gibt es also viele andere, die bei der WM diskutiert werden. Wie nehmen Sie das wahr?
Die Menschenrechte oder die "One Love"-Debatte sind auch Themen dieser WM. Aber die Spieler haben nicht entschieden, wann und wo die WM stattfindet. Die Diskussionen drumherum müssen andere führen, das ist nicht die Aufgabe der Mannschaft. Das sind Dinge, die Politiker, Funktionäre klären müssen. Die Jungs in der Nationalelf sind Sportler, die alles dafür geben, um die Fans auf dem Platz zu begeistern. Einiges entspricht nicht unseren Standards, und wer Verbesserungen ansprechen möchte, sollte das tun. Letztlich ist es aber die Entscheidung jedes Einzelnen, ob und wie er sich zu Dingen, die er nicht in Ordnung findet, äußert. Und wenn sich die Spieler auf den Sport und auf ihre Ziele bei der WM konzentrieren wollen, sollte das auch nachvollziehbar sein.
Das hat das deutsche Team nicht getan und mit der "Mund-zu"-Geste vorm Spiel gegen Japan ein Zeichen gesetzt. Wie fanden Sie das?
Das fand ich gut, nach der ganzen Diskussion um die "One Love"-Binde. Auf Menschenrechte und deren Einhaltung hinzuweisen, ist immer ein gutes Zeichen und deshalb richtig. Aber im Endeffekt wurde das dann auch von vielen wieder negativ ausgelegt. Und es hieß: Das war zu wenig. Da sind wir wieder beim Thema: Vieles wird immer zu negativ gesehen. Auch die sportliche Diskussion lief ja so. Aber es ist doch Fakt, dass wir in Deutschland eine Mannschaft mit großer Qualität haben, und ich würde mir wünschen, dass man ihr einfach mal vertraut. Auch das Japan-Spiel hat die Mannschaft doch über weite Strecken klar dominiert. Deshalb muss man nicht alles gleich schlechtreden.
Nach einer starken Saison, in der Sie Manuel Neuer beim FC Bayern vertraten, waren Sie 2018 für die Nationalelf im Gespräch. Wie nah waren Sie da an der WM-Teilnahme?
Wie jeder Spieler hätte ich mich gefreut, wenn der Anruf gekommen wäre. Letztlich gab es damals aber keinen konkreten Kontakt zum DFB. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn Manu nicht hätte spielen können. Für mich wäre es ein schönes Ereignis und, ich glaube, in dem Jahr auch verdient gewesen. Aber ich freue mich natürlich für Manu, dass er es geschafft hat.
Ein Jahr später wurden Sie dann nominiert, kamen aber nicht zum Einsatz. Trotzdem eine Auszeichnung?
Bei der Nationalmannschaft dabei zu sein, ist ein Traum jedes Spielers. Ein noch größerer Traum ist es, dann auch aufzulaufen oder eine WM mitzumachen. Ich bin aber dankbar, dass ich da überhaupt einmal dabei sein durfte.
- Persönliches Interview mit Sven Ulreich