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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sport ist im Iran eine Randnotiz "Niemand interessiert sich für die WM"
Der Iran ist bei der WM ausgeschieden, der Traum vom Achtelfinale ist vorbei. Doch das sportliche Scheitern ist nur eine Randnotiz.
Es war kurz nach Mitternacht, als Sharon das Al-Thumama-Stadion im Süden Dohas verließ. Der Iran war wenige Minuten zuvor gegen die USA ausgeschieden. Doch das war der Iranerin in diesem Moment egal: "Menschen sterben im Iran. Die Menschen in meinem Land sind unglücklich, es werden Unschuldige getötet. Bei der WM zu gewinnen oder zu verlieren, ist das Gleiche."
Das Duell zwischen dem Iran und den USA war nicht das erste Aufeinandertreffen bei einer Weltmeisterschaft. 1998 spielten beide Teams im altehrwürdigen Stade de Gerland von Lyon gegeneinander. Der Iran gewann mit 2:1. Es war ein Abend, an dem Geschichte geschrieben wurde, an dem Mehdi Mahdavikia, Ali Daei und ihre Kollegen Heldenstatus erreichten.
Der Iran verpasst es, Geschichte zu schreiben
Den hätte am späten Dienstagabend in Doha auch die iranische Nationalmannschaft erlangen können. Noch nie hat sich der Iran für die K.o-Phase einer WM qualifizieren können. Und nach dem Last-minute-Sieg über Wales am zweiten Spieltag waren die Hoffnungen groß, erneut Geschichte zu schreiben. Ein schnödes Remis hätte gereicht, um die Runde der letzten 16 zu erreichen.
Doch ausgerechnet die USA, jenes Land, zu dem der Iran ein mehr als angespanntes Verhältnis pflegt, machten all jene Hoffnungen zunichte. Der Ex-Dortmunder Christian Pulisic brachte die euphorisch tröten- und trommelnden Fans in Weiß-Grün-Rot mit dem einzigen Treffer der Partie kurzzeitig zum Schweigen. Danach wurde es wieder lauter, doch es half nichts.
"Wir haben eine historische Chance", hatte sich Iran-Fan Mehdi vor der Partie noch optimistisch gezeigt. Er und seine Freundin waren extra für das Spiel nach Doha gereist. "Die Jungs können zu Helden werden. Ob es gegen die USA geht oder nicht, ist irrelevant."
Für viele wurden die Spieler bereits nach dem ersten Spieltag zu Helden, auch wenn der Auftakt mit 2:6 gegen England verloren ging. Mit ihrem kollektiven Schweigen bei der Hymne hatten sie ein Zeichen der Solidarität an die protestierende Bevölkerung in der Heimat gesendet. Der Staat setzte die Nationalspieler daraufhin unter Druck, gegen Wales und auch die USA sangen sie unter Zwang wieder. Ein letztes Mal in Katar, wie nun feststeht.
Sharon berichtet von Attacken
Um Mitternacht keimte noch kurz Hoffnung auf, die K.o-Runde zu erreichen. Schiedsrichter Mateu Lahoz bewertete das Halten Cameron Carter-Vickers' an Mehdi Taremi in der Nachspielzeit jedoch nicht für elfmeterwürdig. Das war passiert: Der Ball wurde in die Mitte auf Taremi gegeben, der grätschte die Kugel mit wenig Tempo durch die Beine von Turner. Der Iran wollte Elfmeter, da Carter-Vickers noch leicht gehalten hatte. Doch der Schiedsrichter entschied sich dagegen.
Wenige Minuten später war das Aus der Iraner besiegelt. Doch das war nach Abpfiff kein Thema. Zumindest nicht für Sharon. Sie war traurig, aber nicht wegen des Spiels. Sie war traurig wegen dem, was in ihrem Land passiert. Und wie es auch die Fans in Katar spaltet.
"Als ich gegen England im Stadion war, wurde ich von anderen Iranern attackiert. Von denen, die die Regierung unterstützen", berichtet sie. "Ich trug eine schwarze Flagge, um meine Trauer auszudrücken. Sie haben sie abgerissen und mir weggenommen. Deshalb habe ich sie nun festgebunden. Aber ich will und werde sie weitertragen. Es ist das Geringste, das ich tun kann."
Nima, ihr Begleiter, ergänzt: "Ich liebe den Iran, aber nicht die Islamische Republik. Wenn Sie sich die Gesichter der Fans hier anschauen, dann ist keiner wirklich traurig über das Ergebnis. Sie sind traurig wegen dem, was im Land passiert. Wir sind Fans der iranischen Mannschaft, nicht der Republik."
Nationaltrainer Queiroz: "Haben ihr Trikot mit Stolz getragen"
Der mexikanische Nationaltrainer des Iran, Carlos Queiroz, war auf der Pressekonferenz nach Abpfiff stolz auf seine Mannschaft: "Der Traum ist vorbei. Ich fühle mich geehrt, die iranische Mannschaft zu trainieren. Ich habe schon einige Mannschaften trainiert in meiner Karriere, aber habe noch nie Spieler gesehen, die so viel gegeben und so wenig bekommen haben." Angesprochen auf etwaige Konsequenzen, die den Spielern im Falle eines Scheiterns angedroht wurden, hielt sich Queiroz bedeckt.
"Sie müssen viele Dinge bedenken. Die Welt ist aktuell voller Dummheiten. Alles ist erlaubt. Einer, der eine Information von einer anonymen Quelle bekommt, berichtet etwas. Dummheiten werden binnen zwei Stunden zu Wahrheiten. Das ist die Welt, in der wir leben. Wenn es die Bedrohungen gegeben hat, ist es traurig. Meine Spieler haben verstanden, für wen sie spielen. Sie haben ihr Trikot mit Stolz getragen."
Auch die einstigen Helden Mahdavikia und Daei trugen ihr Trikot einst mit Stolz. Und auch sie werden das Ausscheiden des Nationalteams verfolgt haben. Beide hatten sich in den vergangenen Wochen und Monaten klar gegen das Mullah-Regime positioniert, das die Aufstände der tapfer kämpfenden Frauen im Iran gewaltsam niederschlägt.
Mahdavikia legte im September aus Protest gegen die gewalttätigen iranischen Sicherheitskräfte sein Amt als U21-Trainer nieder, Daei wurde im Oktober zeitweise sein Pass entzogen. Er wird weiter Opfer zahlreicher Drohungen, wie er am Montag bei Instagram mitteilte. Beide sind und bleiben offiziell Feinde der Regierung.
Der iranische Fußball steht, wie das Land selbst, vor einer ungewissen Zukunft. Mit dieser Gewissheit verließen die Anhänger des "Team Melli" das Al-Thumama-Stadion. "Die Menschen im Iran werden auf der Straße getötet. Niemand interessiert sich für die WM", sagt Nima, und ging nach Hause.
- Eigene Beobachtungen und Gespräche im Stadion