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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ex-Kapitän Nuno Gomes Portugal-Legende schwärmt von drei deutschen Spielern
Im zweiten Gruppenspiel trifft die DFB-Elf auf Portugal. Der Titelverteidiger ist längst mehr als nur Superstar Cristiano Ronaldo. Ex-Kapitän Nuno Gomes erklärt, welcher Gegner da auf Deutschland wartet.
Fußballerisch war es kein hochklassiges Endspiel, das am 10. Juli 2016 im Stade de France vor den Toren von Paris stattfand, aber eines, das emotionale Bilder produzierte. Bereits in der achten Spielminute verletzte sich Portugals Kapitän Cristiano Ronaldo bei einem Zweikampf mit Frankreichs Dimitri Payet.
Der Superstar und mehrfache Weltfußballer krümmte sich vor Schmerzen auf dem Boden, dennoch humpelte er noch ganze 17 Minuten eher schlecht als recht über das Spielfeld, bevor er unter Tränen von Nationaltrainer Fernando Santos ausgewechselt wurde. Allerdings: Danach avancierte er zum Co-Trainer, feuerte sein Team von der Seitenlinie an.
Nuno Gomes' Augen strahlen, spricht man ihn auf diese Szenen aus Paris an. "Cristiano ist ein Vorbild, besonders für die jungen Spieler", erklärt der frühere Kapitän der portugiesischen "Seleção" vor dem EM-Duell mit Deutschland (Freitag, ab 18 Uhr im Liveticker bei t-online) im Gespräch mit t-online.
"Cristiano pflegt ein enges Verhältnis zu seinen Teamkameraden"
Der 79-fache Nationalspieler, der an drei Europameisterschaften teilnahm, weiter: "Er hilft seinen Mannschaftskollegen auf und neben dem Platz so viel wie möglich. Auch deshalb ist seine Beziehung zu Coach Santos sehr gut. Sie diskutieren alle Angelegenheiten des Teams gemeinsam, weil Cristiano so ein enges Verhältnis zu seinen Teamkameraden pflegt."
Das sah man vor fünf Jahren sehr gut, denn Ronaldo wollte das Finale nicht einfach so enden lassen. Dick bandagiert kehrte er bereits wenige Minuten nach der Auswechslung zurück auf die portugiesische Auswechselbank – auf der es ihn jedoch nur sehr kurzzeitig hielt. Wild gestikulierend unterstützte der verletzte Führungsspieler Santos beim Coaching an der Seitenlinie. Die Bilder des völlig losgelösten Ronaldo, der seinen Cheftrainer schubst, hochhebt und anschreit, sind längst zu Ikonen der jüngeren Fußballgeschichte geworden – auch weil Ronaldos tragisches Finalschicksal dank Eders Siegtor in der 109. Minute doch noch ein Happy End hatte.
Die letzte EM des Cristiano Ronaldo?
Auch bei der diesjährigen EM wird Ronaldo Portugal als sportlich und emotional überragender Kapitän anführen, das bewies er mit seinem Doppelpack beim 3:0-Auftaktsieg gegen Ungarn eindrucksvoll. Dass der Offensivallrounder von Juventus Turin womöglich seine letzte Europameisterschaft spielt, macht Gomes wehmütig: "Ich wünschte, wir könnten Cristiano ewig spielen sehen, aber das Alter ist ein Problem für jeden Spieler, selbst für ihn." Sorgen um das Leistungsvermögen des 36-Jährigen macht sich der frühere Mittelstürmer der AC Florenz und Benfica Lissabon jedoch nicht. "Ronaldo hat noch eine Menge im Tank. Er hat großes Selbstvertrauen und ist in großartiger körperlicher Verfassung", stellt Gomes klar.
Nuno Gomes, geboren 1976, ist ehemaliger portugiesischer Fußballnationalspieler. Der Mittelstürmer lief zwischen 1996 und 2011 79 Mal für die "Seleção" auf und erzielte dabei 29 Tore. Bei der EM 2008 führte er das Team von der iberischen Halbinsel als Kapitän an. Nach insgesamt zwölf Jahren beim portugiesischen Rekordmeister Benfica und einem zweijährigen Auswärtsspiel bei der AC Florenz (2000 bis 2002) beendete Gomes seine aktive Karriere 2013 beim englischen Profiklub Blackburn Rovers. Im Anschluss arbeitete er als Direktor des Benfica-Nachwuchsleistungszentrums. Aktuell betreibt er gemeinsam mit seinem Bruder Tiago eine Spielerberateragentur.
Dennoch blicken sie sich in Portugal bereits langsam nach einem Nachfolger fürs Kapitänsamt um. Für Gomes gibt es dabei nur einen folgerichtigen Erben für Ronaldo: Ruben Dias, Innenverteidiger von Manchester City und Englands Fußballer des Jahres 2021.
Portugals neuer Kapitän könnte ein Verteidiger sein
"Ruben Dias hat das Profil, der nächste Kapitän Portugals zu werden", betont Gomes. "Er ist eine geborene Führungspersönlichkeit. Das hat ihm auch dabei geholfen, so schnell und einfach bei Manchester City Fuß zu fassen. Sollte Cristiano eines Tages seine Nationalmannschaftskarriere beenden, dürfte Ruben die Binde von ihm übernehmen."
Obwohl Portugal mit dem 24-jährigen Dias und dem 27-jährigen Joao Cancelo zwei Weltklasseverteidiger im besten Alter vorweisen kann, bemängelt Gomes das grundsätzliche Defensivverhalten portugiesischer Fußballer. Er erläutert: "Aus meiner Sicht ist dies die Schwachstelle vieler portugiesischer Talente. Die Spieler aus den Jugendmannschaften von Benfica, Sporting, Porto und sogar Braga sind es gewöhnt, Angriffsfußball zu spielen, einfach aus dem Grund, weil sie immer im besten Team ihrer Liga spielen und die Gegner zu schwach sind, um sie zum Verteidigen zu zwingen."
Auch aufgrund dieser Vorprägung habe sich etwa Toptalent Joao Felix, der im Sommer 2019 für 127 Millionen Euro von Benfica zu Atlético Madrid wechselte, in seinem neuen Umfeld lange schwergetan. Strikte Defensivregimente, wie sie etwa Atlético-Coach Diego Simeone seit nunmehr zehn Jahren bei den "Colchoneros" diktiert, stehen in krassem Kontrast zur portugiesischen Fußballphilosophie. Gomes ist jedoch überzeugt davon, dass es gerade solche Transfers raus aus der Komfortzone sind, die nicht nur Talenten wie Joao Felix, sondern damit auch der Nationalmannschaft Portugals helfen.
Offensiv nämlich, das wird auch im Gespräch mit Gomes deutlich, muss sich wirklich niemand um die Portugiesen sorgen. Mit Spielern wie Ronaldo, Felix, Bernardo Silva und Diogo Jota verfügt die "Seleção" über ein Überangebot an pfeilschnellen, kreativen Angreifern, die sowohl Torchancen kreieren als auch selbst verwerten können. Auch deshalb musste Eintracht Frankfurts Torjäger André Silva trotz 36 Torbeteiligungen in 32 Bundesliga-Einsätzen (mit 28 Treffern hat er einen neuen Frankfurter Vereinsrekord aufgestellt, Anm. d. Red.) den EM-Auftakt 81 Minuten lang von der Bank aus beobachten.
André Silva: Portugals einzige echte Nummer neun
Silva tut dem ehemaligen Vollblutstürmer Gomes leid. "André Silva hat Pech, dass er in derselben Liga wie Robert Lewandowski spielt", sagt der 44-Jährige und schmunzelt. Wäre der 41-Tore-Mann des FC Bayern nicht gewesen, so ist er sich sicher, wäre auch Silvas Ansehen in Portugal ein ganz anderes. So jedoch hängt sein weiteres EM-Schicksal vor allem von der taktischen Ausrichtung von Coach Santos ab: Wird er in den kommenden Partien mit einem echten Mittelstürmer oder weiterhin mit Cristiano Ronaldo als hängende Spitze und Joao Felix und Bernardo Silva als Flügelstürmer spielen wollen? Nuno Gomes zuckt mit den Schultern, sagt allerdings auch klar: "Sollte Santos mit einer echten Nummer neun spielen wollen, muss er André Silva aufstellen."
Es könnte also durchaus ausgerechnet ein Bundesliga-Legionär sein, der gegen Deutschland zum Matchwinner für Portugal wird.
Gomes derweil hat seine ganz eigene Historie mit der DFB-Elf. Sowohl bei der WM 2006 als auch bei der EM 2008 zog er mit seinen Portugiesen in K.o.-Spielen gegen Deutschland den Kürzeren. Trotz der bitteren Niederlagen gibt es jedoch eine Erinnerung, die ihm ein schelmisches Lächeln auf die Lippen zaubert. "Ich habe bei der WM 2006 zwar nicht viel gespielt", erzählt Gomes, "aber im Spiel um Platz drei gegen Deutschland stand ich auf dem Platz und kann nun voller Stolz behaupten, dass ich der letzte Stürmer bin, der gegen Oliver Kahn getroffen hat. Entschuldige, Olli! Er war ein Monster-Torwart."
Trotz Gomes' Treffer sicherte sich am Ende aber Deutschland die Bronzemedaille bei der Heim-WM und zog nach einem Viertelfinal-Erfolg gegen Portugal zwei Jahre später auch noch ins EM-Finale ein. "Deutschlands Stärke dieser Jahre lässt sich mit einer weiteren Partie gegen Portugal erklären", merkt Gomes an: "Bei der EM 2000 verloren sie mit 0:3 gegen uns und flogen in der Gruppenphase aus dem Turnier. Diese Schmach führte zu einer Revolution des deutschen Fußballs. Die komplette Mentalität änderte sich. Seit dieser Niederlage glaubt Deutschland, dass sie jedes Turnier gewinnen können – und ich glaube das auch."
"Deutschlands Kader ist perfekt ausbalanciert"
Auch bei dieser EM zählt Gomes Deutschland zum erweiterten Favoritenkreis, trotz der 0:1-Pleite zum Auftakt gegen Weltmeister Frankreich. "Der Kader ist perfekt ausbalanciert, um den Titel zu holen: Man hat eine gute Mixtur aus erfahrenen Spielern, die bereits alles gewonnen haben, und einer aufstrebenden neuen Generation von Spielern, die in den besten Teams Europas spielen. Goretzka, Sané, Werner, Gnabry, Kimmich – wow, das sind Spieler, die so motiviert sind, ihr Können sich und der ganzen Welt zu beweisen", schwärmt der einstige Weltklassestürmer.
Angst und Bange ist ihm dennoch nicht vor Deutschland, dafür ist er schlicht zu überzeugt von der portugiesischen "Seleção". "Unsere Nationalmannschaft hat keine großen Schwächen, um ehrlich zu sein", so Gomes. Besonders ein Punkt imponiert ihm an Ronaldo und Co.: "Schaut man sich frühere Generationen von portugiesischen Nationalmannschaften an, spielten diese zwar sehr schönen und eleganten Fußball, am Ende gewannen jedoch immer andere Mannschaften die Trophäen. Das hat sich 2016 geändert und damit auch, wie Portugiesen übers Gewinnen denken. Sie denken nun pragmatischer, sie wollen Trophäen gewinnen."
Ein Paradigmenwechsel, der auch bei Portugals Partie gegen Ungarn erkennbar war: Portugal dominierte das Spielgeschehen in Summe zwar klar mit 70:30 Prozent Ballbesitz und mehr als doppelt so vielen Torschüssen wie der Gegner, nahm jedoch über weite Phasen der zweiten Hälfte den Fuß vom Gaspedal. Erst Szabolcs Schöns Abseitstor in der 80. Minute ließ Portugal noch einmal die Zügel anziehen. Innerhalb von sechs Minuten schenkte man Ungarn durch dynamisches Spiel nach vorne und direktes Kurzpassspiel drei Treffer ein.
Schnelligkeit als Deutschlands Hoffnungsschimmer
"Ich bin mir sicher, dass unser Nationaltrainer die richtige Startelf und Taktik findet, um Deutschland zu schlagen", sagt Gomes. Einen kleinen Hoffnungsschimmer will er den Deutschen dann aber doch noch mitgeben: "Das Einzige, das Portugal gefährlich werden könnte, ist die Schnelligkeit der deutschen Stürmer. Wir haben zwar schnelle Verteidiger, aber sie sind längst nicht so schnell wie Timo Werner, Leroy Sané und Serge Gnabry."
Nur, was ist dann sein Tipp für die Partie in München? Gomes kommt ins Grübeln. Nach etwas Bedenkzeit sagt er: "Es ist unmöglich, das Ergebnis dieser Partie vorauszusagen. Beide Mannschaften sind ähnlich stark." Er lacht laut auf, bevor er hinzufügt: "Müsste ich wetten, würde ich mein Geld auf beide Teams setzen."
- Eigene Recherche und Beobachtungen
- Gespräch mit Nuno Gomes