Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Tuchels riskanter Taktikwechsel Bayerischer Systemabsturz mit Folgen
Der FC Bayern wurde im direkten Duell der beiden Meisterrivalen in Leverkusen gedemütigt. Auch, weil Tuchel sich mit seiner Taktik komplett verzockt hat.
Aus Leverkusen berichtet Julian Buhl
Eigentlich war alles wie schon vor ziemlich genau einem Jahr: Julian Nagelsmann saß damals als Trainer des deutschen Rekordmeisters in der BayArena in Leverkusen und schimpfte über vermeidbare Gegentore des FC Bayern vor sich hin. Genau wie damals, am 19. März (1:2), verlor der Rekordmeister auch am Samstag (0:3) wieder.
Allerdings heißt der Cheftrainer der Münchner seit ebenjener Niederlage nicht mehr Nagelsmann. Der 36-Jährige wurde danach schließlich entlassen und verfolgte das Spitzenspiel der Bundesliga nun als Bundestrainer bisweilen kopfschüttelnd auf der Tribüne, während sein Nachfolger Thomas Tuchel sich auf der Trainerbank über die Patzer seiner Mannschaft ärgerte.
"Hosen runter, Karten auf den Tisch", hatte Tuchel vor dem direkten Duell der beiden bis dahin historisch besten Meisterschaftskandidaten der Bundesliga-Geschichte als Devise ausgegeben, in das Bayer Leverkusen als Tabellenführer mit 52 Punkten und zwei Zählern Vorsprung gegangen war. Durch den Heimsieg gegen Bayern hat Bayer den nun auf fünf Punkte ausgebaut.
Bayern erlebt kompletten Systemabsturz
Dementsprechend ernüchternd fiel das Fazit der Münchner in den Katakomben der Arena aus. "Es war das Spiel, auf das ganz Fußball-Deutschland seit Wochen hingefiebert hat. Und wir haben verdient verloren – leider", sagte Vorstandsboss Jan-Christian Dreesen dort. Für Kapitän Manuel Neuer war es sogar eine der schlechtesten Leistungen. "Am wichtigsten Tag beim wichtigsten Spiel. Dann kannst du gegen so eine Mannschaft, die gerade mit die beste ist, einfach nicht bestehen und schon gar nicht gewinnen."
Eigentlich sind die Bayern dafür bekannt, genau in solchen entscheidenden Momenten mit besonderem Selbstvertrauen und Stärke aufzutreten. Borussia Dortmund wurde so in den vergangenen Jahren Jahr für Jahr immer wieder in die Schranken gewiesen. In Leverkusen erlebte der Rekordmeister nun aber eine Demütigung und einen kompletten Systemabsturz, der den Leitgedanken und das Selbstverständnis des Klubs, das "Mia san mia", tief erschütterte.
Müller mit emotionaler Wutrede
"Es gibt natürlich einige Symptome, die man auch auf dem Platz sieht, und ich bin, ehrlich gesagt, angefressen", sagte ein sichtlich verärgerter Müller im Interview bei Sky nach der Partie: "Was mir fehlt ist, und deswegen sag ich es auch öffentlich: Im Training, da zeigen wir deutlich bessere Ansätze, weil wir da mutig sind, weil wir frei Fußball spielen." Auf dem Platz war davon am Samstag allerdings zum wiederholten Mal in den vergangenen Wochen nichts zu sehen.
"Da fehlen mir – und jetzt können wir unseren Oli Kahn zitieren – teilweise die Eier und diese Freiheit bei den Spielern. Wir haben so eine Verkopftheit in unserem Spiel, vor allem mit Ball", mahnte Müller. Joshua Kimmich gab seinem Mannschaftskollegen recht: "Generell ist im Spiel wenig zu sehen von Spielfreude, Kreativität, Leichtigkeit, Freiheit", sagte der Nationalspieler, den Tuchel nach seiner Schulterverletzung – genau wie Müller – nicht in die Startelf beordert hatte. "Wir haben echte Probleme und Chancen zu erarbeiten. Lassen auf der anderen Seite aber zu viele Chancen zu."
Tuchel verunsichert Mannschaft mit Systemwechsel
Zur allgemeinen Verunsicherung seiner Mannschaft hatte zweifellos auch Tuchel beigetragen – und zwar nicht nur durch die Nichtberücksichtigung seiner beiden Vizekapitäne. Vor allem mit seiner taktischen Aufstellung sorgte der 50-Jährige für große Verwunderung. Erstmals überhaupt in dieser Saison ließ er sein Team nämlich mit einer Dreierkette in der Abwehr beginnen.
11. Spieltag
In der waren mit Asien-Cup-Rückkehrer Min-jae Kim und dem gerade erst von einem Muskelfaserriss genesenen Dayot Upamecano gleich zwei Neulinge sowie Winterneuzugang Eric Dier als zentraler Abwehrspieler zu finden. Matthijs de Ligt, der zuletzt mit soliden Leistungen und einem Treffer beim 3:1 gegen Gladbach durchaus überzeugt hatte, musste dagegen auf die Bank.
Flankiert wurde die Dreierkette von Noussair Mazraoui als Schienenspieler auf der rechten und etwas überraschend Sacha Boey auf der linken Seite. Der Neuzugang kam im Winter eigentlich als gelernter Rechtsverteidiger für 30 Millionen Euro von Galatasaray Istanbul und wirkte auf der fremden Position teilweise komplett überfordert. Das galt allerdings auch ausnahmslos für alle anderen Abwehrspieler. Sinnbildlich dafür stand die Entstehung des ersten Gegentreffers, der nach einem simplen, schnell ausgeführten Einwurf fiel.
Tuchel über Taktik: "Ich würde es wieder so machen"
"Ich würde es wieder so machen", verteidigte Tuchel die von ihm gewählte Ausrichtung. Er "übernehme immer die Verantwortung für die Taktik. Da ist es selbstverständlich, dass ich sie auch heute übernehme". Die Niederlage habe aber "nix mit Taktik zu tun gehabt", so Tuchel, der monierte: "Das 1:0 kannst du normalerweise in der Fünferkette nicht kassieren. Das geht nicht. Das ist ein klarer Konzentrationsfehler. Es schlafen einfach alle. Es tut weh, ein sehr billiges Tor."
Warum aber ging Tuchel ausgerechnet in dem wichtigen Spiel in Leverkusen mit seiner Systemänderung derart ins Risiko? Auch in der Offensive stimmten die Abläufe so überhaupt nicht mehr, Starstürmer Harry Kane war überhaupt nicht ins Spiel eingebunden.
"Die Taktik verunsichert gar nicht", sagte Kimmich und verteidigte die Maßnahmen seines Coaches. "Also ich war eigentlich davon überzeugt, dass es eine gute Herangehensweise ist, der Trainer hat uns gut eingestellt. Am Ende des Tages müssen wir dann natürlich auch das Ganze mit Leben füllen." Kimmich selbst bekam von Tuchel allerdings zunächst nicht die Möglichkeit dazu, sondern einen Bankplatz zugeordnet.
So reagiert Kimmich auf seine Bankrolle
"Ich habe in den letzten zwei Wochen alles dafür getan, dass ich schnell zurückkomme, dass ich gesund zurückkomme, um heute von Anfang an zu spielen", sagte der 29-Jährige darauf angesprochen. "Am Ende des Tages trifft der Trainer die Entscheidungen, die wir Spieler akzeptieren müssen."
Die eigentliche Idee, die hinter Tuchels überraschendem Matchplan stand, erklärte Kimmich folgendermaßen: "Wir wollten hoch pressen, früh stören, wollten Mann gegen Mann draufgehen. Und dann auch natürlich eine gewisse Emotionalität auf den Platz bringen."
Hat Alonso damit schon sein Meisterstück gemacht?
All das war allerdings nur beim Gegner zu beobachten, den Xabi Alonso dagegen offenbar taktisch perfekt aufgestellt hatte. Mit den Wechseln, die er in der Startelf vornahm, bewies er einmal mehr ein goldenes Händchen. Mit Josip Stanišić hatte er überraschend auf die Leihgabe der Bayern gesetzt. Der 23 Jahre alte Außenverteidiger überzeugte defensiv mit einer fehlerfreien Vorstellung und erzielte darüber hinaus auch noch das wichtige 1:0.
Gut möglich, dass Alonso, der spanische Trainerlehrling, mit dem Sieg gegen Bayern nun bereits sein Meisterstück gemacht hat. Ähnlich empfindliche und in der Meisterschaft vorentscheidende Niederlagen hatte zuletzt Borussia Dortmund den Münchnern beigebracht – vor über zwölf Jahren.
Im Februar 2011 gewann der BVB mit 3:1 in München und wurde anschließend Meister. Im April 2012 schlug die Borussia mit Trainer Jürgen Klopp als Coach sowie Mario Götze und Robert Lewandowski im Team die Bayern damals mit 1:0 in Dortmund. Und gewann anschließend nach der Meisterschaft dann auch noch das Pokalfinale mit 5:2 gegen die Bayern – und damit das Double.
So beantwortet Dreesen die Trainerfrage
"Wir werden jetzt den Teufel tun, die Flinte ins Korn zu werfen", sagte Tuchel. "Für uns verändert sich der Abstand, aber die Herangehensweise nicht. Wir müssen weitermachen, besser werden." Und auch Dreesen wollte die Meisterschale noch keinesfalls abschreiben und bemühte das Prinzip Hoffnung: "Wer wäre ich, dass ich nicht Optimist wäre bis zum Schluss. Wir geben nicht auf, wir müssen da sein, wenn Leverkusen patzt."
Angesprochen auf den überraschenden Systemwechsel und den damit verbundenen Systemcrash sagte Dreesen zwar: "Woran das genau liegt, da gibt es dann einen Experten, da müssen wir den Trainer fragen!" Am Rückhalt des 50-Jährigen bei der Bayern-Klubführung "da ändert sich gar nichts", fügte Dreesen aber ausdrücklich hinzu. "Wir wussten vorher, dass es ein schweres Spiel wird." Deshalb werde Tuchel auch nicht hinterfragt, wie Dreesen auch auf erneute Nachfrage betonte: "Ich mag mich ungern wiederholen. Es bleibt, wie ich es gerade gesagt habe."
Tuchel muss seine Lehren daraus ziehen
Für Tuchel gilt es trotzdem schnellstmöglich, die richtigen Lehren aus dem Erlebten zu ziehen. Bereits am Mittwoch steht das wichtige Achtelfinalhinspiel in der Champions League bei Lazio Rom an. Bayern ist gegen den Tabellenneunten der italienischen Serie A der klare Favorit, ein Weiterkommen Pflicht. Gut möglich, dass er dafür aber einen erneuten Systemwechsel zurück zur vertrauten taktischen Ordnung benötigen wird.
Nachdem der BVB die Dauerdominanz der Bayern in der Bundesliga bereits in der vergangenen Saison bereits massiv ins Wanken gebracht hatte, könnte Leverkusen sie nach elf bayerischen Meistertiteln in Serie nun jedenfalls tatsächlich beenden. Es wäre eine durchaus spezielle Pointe, wenn das ausgerechnet der Mannschaft gelingen würde, die in den vergangenen Jahrzehnten speziell im Süden stets als ewiger Zweiter verspottet wurde.
Stichwort: "Vizekusen." Davon habe er schon gehört, sagte Alejandro Grimaldo, der Torschütze des 2:0, und lachte, "aber vielleicht können wir in diesem Jahr ja tatsächlich mal die Meisterschaft gewinnen." Die Chancen dazu stehen jetzt zumindest so gut wie nie. Auch, weil Tuchel ausgerechnet beim großen Showdown hoch gepokert und sich dabei komplett verzockt hat.
- Eigene Beobachtungen vor Ort in der BayArena
- Mixed-Zonte-Gespräche mit Manuel Neuer, Jan-Christian Dreesen und Joshua Kimmich