Irre schwach, aber irre Moral "Herzfrequenzspiel" macht Bayern reif für Großes
Aus München berichtet Maximilian Miguletz
Als der letzte Vorhang des Dramas fiel, verteilte Pep Guardiola zunächst Umarmungen, doch dann ging der Trainer des FC Bayern in die Knie, stützte sich auf dem Rasen der Allianz Arena ab und hielt inne. Durchschnaufen. Das 4:2 nach Verlängerung über Juventus Turin im Achtelfinale der Champions League hat Kraft gekostet. Gleichzeitig kann es Kräfte freisetzen - und zum Schlüsselspiel der Saison werden.
"Das war ein tolles Fußball-Spiel für die Fans", bilanzierte Guardiola nach dem irren Sieg gegen den letztjährigen Finalisten: "Großes Kompliment an meine Mannschaft. Gegen eine italienische Mannschaft nach 0:2-Rückstand zu gewinnen - überragend."
Dass es überhaupt zu diesem Rückstand kam, ist den vielleicht schlechtesten 70 FCB-Minuten dieser Saison geschuldet. Doch dann folgte ein emotionales Comeback des deutschen Rekordmeisters.
"Haben immer an uns geglaubt"
"Die Mannschaft hat Charakter bewiesen. Das sind Spiele, die dazu führen können, dass du weit kommen kannst", sagte Bayerns Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge und nannte die Partie ein "Herzfrequenzspiel". "Solche Spiele können Teams noch mehr zusammenschweißen", pflichtete Keeper Manuel Neuer bei. Auch die Aussagen der anderen Spieler legen nahe, dass diese Wende eine Art Initiationsmoment eines Champions gewesen sein könnte.
"Wir haben immer an uns geglaubt und genau deswegen das Ding gedreht", sagte etwa Joshua Kimmich. Und auch Thomas Müller, der mit seinem 2:2 in der 90. Minute zum 35. Mal in der Königsklasse traf und damit Gerd Müller im Bayern-Ranking überholte, "wusste die ganze Zeit, dass noch was geht". "Mia san mia" eben, das "immer weiter", das an der Säbener Straße Mythos und Maxime zugleich ist. Nun auch in der aktuellen Mannschaft. Nährboden für Titelträume.
Alaba führt den "Hühnerhaufen" an
Doch soll am Ende tatsächlich Europas Krone herausspringen, muss die Leistung der Moral angepasst werden. Nach dem frühen 0:1 war Bayern von der Rolle, wirkte hilflos, blutleer, teils einem Schülerteam gleich. "Wir haben dem Gegner Geschenke gemacht", sagte Neuer und wollte das 0:1 auf die eigene Kappe nehmen. Doch David Alabas abenteuerliche Ballannahme ermöglichte Juve erst die Chance.
Überhaupt erwischte der sonst so konstant gute Österreicher einen mehr als gebrauchten Tag. Vor dem zweiten Treffer verlor er den Ball und unterband anschließend den Turiner Konter nicht durch ein "taktisches Foul", wie Bundestrainer Joachim Löw in der Halbzeitpause anmerkte.
Dass Alvaro Morata und Juan Cuadrado in der Folge die gesamte Bayern-Abwehr narrten passte ins Bild. Franz Beckenbauer sprach bei seinem letzten Auftritt als Sky-Experte von einem "Hühnerhaufen". Zu diesem Zeitpunkt wirkte der FCB mausetot. "Mit einem dritten Treffer wäre es vorbei gewesen", sagte Sami Khedira ganz richtig.
Guardiola muss korrigieren
Dass es letztlich dennoch ein "bitterer Tag" für den Weltmeister und Juve wurde, lag nicht an Bayerns taktischer Finesse. Auf diesem Feld hatte Turin gewonnen. Guardiolas Spielidee fruchtete nicht. Erst als er seine Ein- und Aufstellung korrigierte, kam die Wende. Bezeichnenderweise fielen sowohl das 1:2 als auch der Last-Minute-Ausgleich in Pep-untypischer Manier: Flanke, Kopfball.
Die Entscheidung brachten dann Thiago und Kingsley Coman, die zunächst auf der Bank saßen, obwohl sie zuletzt in der Bundesliga so stark auftrumpften. "Die Einwechselspieler haben einen überragenden Job gemacht", lobte Kapitän Philipp Lahm die Joker nach dem zehnten CL-Heimsieg in Serie (Klubrekord) und sprach von einem "unglaublichen Abend". Müller sah ein "verrücktes Spiel". Und genau dieser nicht zu glaubende Wahnsinn kann ein Team beflügeln, gerade auch nach einer eigentlich schwachen Leistung, und bis zum größten Erfolg tragen.