Wolfsburg VW will autonomes Fahren in Breite bringen
Pkw und Busse, die sich selber steuern. Apps, die das passende Shuttle oder Carsharing-Angebot suchen. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz scheint manchmal noch abstrakt - in den Autos des Volkswagen-Konzerns soll er bald ganz konkrete Realität werden.
Der größte Hersteller Europas bündelt seine Pläne für den Hochlauf des autonomen Fahrens auf separaten Technologie-Plattformen - so wie man das bisher mit der Antriebstechnik machte. Die verschiedenen Dienstleistungen, die um eigene Fahrzeug-Software angeordnet sind, sollen in den nächsten Jahren konzernweit vereinheitlicht werden. Nach dem Ausbau der E-Mobilität, die nun mit üppiger staatlicher Förderung stärker bei den Verbrauchern ankommt, soll es das nächste "große Ding" werden, mit dem sich die Branche neu erfinden will.
VW-Chef Herbert Diess sieht beträchtliches Potenzial. "Die Mobilität 2030 wird autonom sein, digital, smart, nachhaltig und sicher", sagte er am Dienstag zur Vorstellung der neuen Strategie. Das Konzept trägt seine Handschrift - und dürfte mit ein Grund dafür sein, dass er gerade einen Anschlussvertrag bis zum Herbst 2025 bekam. "Der Verkehr wird viel sicherer, Autos werden miteinander kommunizieren."
Bisher muteten solche Vorstellungen noch etwas wolkig an. Sie werden jetzt zusehends mit Projekten unterlegt. So testet VW autonome Busse in München - weitere Vorhaben in Deutschland, den USA und China folgen. Zur Fußball-WM Ende 2022 in Katar sollen autonome E-Busse im Land des Großaktionärs vom Persischen Golf unterwegs sein.
Generell werden "selbstfahrende Systeme", ihre Integration ins Auto, die Steuerung ganzer Flotten und der Aufbau von Mobilitätsplattformen ein Kernthema - letztere auch im Wechselspiel mit Sharing-Angeboten und dem öffentlichen Nahverkehr. Das Langfrist-Ziel lässt aufhorchen: das "weltweit größte neuronale Netz von Fahrzeugen auf den Straßen".
Das erwartete Marktvolumen ist gigantisch - auch wenn Schätzungen zum Umfang auseinandergehen. Die Einnahmen aus allen Autoverkäufen, die mit neuen Software-Funktionen zusammenhängen, werden von VW bis 2030 branchenweit auf bis zu 1,2 Billionen Euro taxiert. Dies könnte dazu führen, dass der Mobilitätsmarkt insgesamt auf 5 Billionen Euro zulegt. Allein in den fünf größten Automärkten Europas und bezogen auf Mobilitätsdienste im engeren Sinne rechnen die Wolfsburger mit 70 Milliarden Dollar (59 Mrd Euro).
Dabei kommt es natürlich darauf an, welche Ausbaustufe gemeint ist. Beim autonomen Fahren in seinen reinsten Formen - den Stufen 4 und 5 - dürfte das Geschäft im Jahr 2030 noch relativ überschaubar sein, glaubt etwa die Beratungsfirma Accenture. Man kalkuliert hier mit einem Marktanteil von "etwas über 4,5 Prozent mit mindestens Level 3". Auf unteren Stufen geht es eher um erweiterte Assistenzsysteme. "Insofern lässt die Revolution des autonomen Fahrens noch auf sich warten." Das Software-Thema sei komplexer als vielerorts angenommen.
Das wissen sie auch bei Volkswagen - teils aus leidvoller eigener Erfahrung. So war der Anlauf des Golf 8 und ID.3 schwierig, weil die komplizierte Steuertechnik zu Beginn noch nicht voll funktionierte. Konzernintern ist von einem langen Lernprozess die Rede, der nun aber Fahrt aufgenommen habe. Inzwischen wurde mit der "Marke" Cariad eine eigene Software-Sparte gegründet, sie soll der neuen Gesamtstrategie zufolge ein "Software-Rückgrat für alle Konzernfahrzeuge" aufbauen.
Den Anfang machen Drahtlos-Updates und Funktions-Upgrades, die bei E-Modellen der ID-Familie aufgespielt werden. 2023 soll es eine "Premium-Plattform" geben, die Infotainment-Systeme vereinheitlicht. Schließlich entsteht ein Betriebssystem für alle Konzernwagen. Und sobald beim autonomen Fahren "Level 4" auf breiter Front erreicht sei, gelte: "Die Kunden können das Steuer ganz dem Auto übergeben."
Bis 2025 pumpt der Konzern 73 Milliarden Euro in neue Technik - die Hälfte aller Ausgaben. "Wir werden unsere Investitionen in autonomes Fahren und Mobilitätsdienste fortsetzen", so Finanzchef Arno Antlitz.
Die Ausweitung der Plattform-Strategie soll auch dabei helfen, die Größenvorteile des Konzerns stärker auszunutzen. Dabei geht es Diess nicht um Größe an sich, sondern um das Ausschöpfen von Kostenvorteilen durch die Verwendung gleicher Teile und Verfahren. Das gelte auch und gerade für Standardisierung bei der Software.
Bei der klassischen Auto-"Hardware" soll der neue Basis-Baukasten "Scalable Systems Platform" (SSP) für reine E-Fahrzeuge ab 2026 in die Produktion gehen. Letztlich sollen einmal alle Modelle an ihn angelehnt werden - auch die noch vorhandenen Verbrenner, die bis spätestens Mitte der 2030er Jahre im VW-Konzern auslaufen dürften.
Diess ist überzeugt: "Elektrofahrzeuge werden günstiger mit der Zeit durch unsere Skaleneffekte und Fortschritte." Derweil soll das Marktvolumen der Verbrenner bis 2030 um ein Fünftel abnehmen, auch wegen strikterer Regeln für die Emission von CO2 und Stickoxiden. "Gleichzeitig wird bis 2030 der globale Elektrofahrzeugmarkt gleichauf mit dem Absatz an Verbrennern liegen." Der Konzern will bis dahin die Hälfte seines Modellangebots auf E-Autos umgestellt haben.
Damit all die nötigen Batterien da sind, zieht VW Zellfabriken hoch. Beim Standort Salzgitter ist nun auch der chinesische Partner Gotion dabei - für ein mögliches zweites Werk in Deutschland sieht der Betriebsrat gute Chancen. Belegschaftschefin Daniela Cavallo erklärte: "Uns ist aber auch klar, dass dafür die Bedingungen stimmen müssen. Daher erwarten wir, dass der Vorstand die Arbeit an den nötigen Voraussetzungen für einen weiteren Standort mit Nachdruck vorantreibt, um auch die zweite Giga-Fabrik ins Ziel zu bringen."
Am Mittwoch werden aus Brüssel Details zur Umsetzung der Klimaziele in den EU-Staaten erwartet. Die Umweltorganisation Greenpeace äußerte sich zur neuen VW-Strategie eher skeptisch: "Ob vielversprechende Ideen wie autonom fahrende Kleinbusse dieses Mal wirklich eine Chance kriegen oder nur Greenwashing sind, ist fraglich."