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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Interview mit Klimaaktivist Lob für Stuttgart – Note sechs für die Bundesregierung
Für Moritz Riedacher ist der Protest nur Notwehr: Der Aktivist von "Aufstand der letzten Generation" verrät im Interview, was er von Bundeskanzler Olaf Scholz hält, wieso ausgerechnet Autofahrer leiden müssen und was er über die Aktivitäten der Stadt Stuttgart denkt.
Ende Mai sorgten die Aktivisten von "Aufstand der letzten Generation" aus Stuttgart bundesweit für Schlagzeilen, als sie einen Auftritt von Bundeskanzler Olaf Scholz beim Katholikentag in Stuttgart störten. Der sichtlich verärgerte Kanzler sagte daraufhin, das erinnere ihn "an eine Zeit, die lange zurückliegt, und Gott sei Dank". Dies legten viele Klimaschützer ihm als Nazivergleich aus, was wiederum für starke Kritik aus deren Reihen sorgte.
Der Aktivist, der versuchte, sich vor Olaf Scholz an die Bühne zu kleben, heißt Moritz Riedacher. Er kommt aus Stuttgart und ist dort einer von rund 20 Aktivisten der Ortsgruppe von "Aufstand der letzten Generation". Im Gespräch mit t-online verrät der 25-jährige Journalismus-Student, warum er die Rede von Olaf Scholz gestört hat, was er von der Kritik des Bundeskanzlers hält und weshalb ausgerechnet Autofahrer Ziel regelmäßiger Proteste sind.
t-online: Herr Riedacher, beim Katholikentag in Stuttgart sorgten Aktivisten vom "Aufstand der letzten Generation" für einen Eklat, indem sie die Bühne bei einer Veranstaltung mit Bundeskanzler Olaf Scholz stürmten. Waren Sie dabei?
Moritz Riedacher: Ja, ich bin zur Bühne gegangen und wollte mich ankleben. Ein anderer hat laut "Schwachsinn" gerufen, weil Arbeitsplätze in den erneuerbaren Energien die Regierung offenbar nicht interessieren. Ich wurde dann aber direkt von Sicherheitspersonal gepackt und weggetragen.
Das heißt, die Aktion ist gescheitert?
In gewisser Weise ging die Aktion schief. Ich wurde abgefangen. Der selbsternannte Klimakanzler hat sich jedoch enttarnt und hat uns Bürgerinnen und Bürger, die sich für das Klima engagieren, mutmaßlich – wir wissen es natürlich nicht sicher – mit Nationalsozialisten verglichen.
Haben Sie es so aufgefasst?
Ich habe mich tatsächlich an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte erinnert. An Nazis, die mit brutalen Methoden die Weimarer Republik beendet haben. Und das war für mich, für uns, eine Offenbarung. Das hat uns sehr irritiert.
Fordern Sie eine Entschuldigung des Bundeskanzlers?
Nein, denn die kann es nicht geben. Wir fordern aber, dass er sich zumindest erklärt. Dass er sagt, was er damit gemeint hat. Diese Erklärung will er aber anscheinend nicht geben. Das zeigt uns, dass er seiner Verantwortung nicht gerecht wird, unsere Demokratie und unseren Wohlstand zu wahren.
Ein Vorwurf von Olaf Scholz war ja auch, die Aktionen der Letzten Generation seien bloß Selbstinszenierung.
Es ist kein Selbstzweck, für den wir uns einsetzen. Es ist einfach nur: Unser Überleben sichern. Wir setzen unsere Körper und unsere Stimmen ein und riskieren unsere Freiheit für sozialen Frieden und genug Essen.
Der "Aufstand der letzten Generation" setzt allerdings viel radikalere Mittel ein als viele anderen aktivistische Organisationen. Warum klebt ihr euch auf Straßen?
Wir wollen mit den Straßenblockaden möglichst viele Menschen trainieren, um ab 18. Juni in Berlin vor den Toren der Regierung die Straßen zu blockieren. Und die Straßenblockaden nutzen wir quasi als Vorbereitung und Training dazu.
Also sind es im Prinzip lokale Trainingscamps?
Genau, die Straßenblockaden dienen quasi als Vorbereitung zu der großen Massenaktion. Wir haben deswegen auch der Regierung einen offenen Brief geschrieben, adressiert an unsere Regierungsvertreter, Herrn Lindner, Herrn Scholz und Herrn Habeck, in dem wir ihnen auch ankündigen, was wir tun, indem wir ihnen noch mal neue wissenschaftliche Fakten nahebringen. Aber: Wir ziehen stets das persönliche Gespräch und den direkten Austausch den Aktionen vor.
Wie bereiten Sie sich denn auf Aktionen wie in Stuttgart auf den Straßen oder beim Katholikentag vor?
Wir haben regelmäßige Aktions-Trainings, die wie die Vorträge, die wir machen, dezentral organisiert werden und in regelmäßigem Turnus stattfinden. Durch Rollenspiele lernen wir, uns auf diese Situationen möglichst authentisch vorzubereiten. Genauso lernen die Leute eben, wie sie sich auch vor Angriffen schützen können. Was wir machen, ist ja letztendlich auch friedlicher ziviler Ungehorsam. Das bedeutet, dass wir nicht aggressiv in der Kommunikation sind und uns auch nicht aktiv verteidigen und zu dem, was uns erwartet, eben mit unserem Namen und unseren Gesichtern stehen.
Sie haben gesagt, Sie wollten sich vor Scholz ankleben. Wie erfolgreich kann so eine Aktion sein?
Natürlich war ich vor der Aktion sehr aufgeregt. Bei uns ist alles immer auch ein Versuch. Und es hat tatsächlich einmal geklappt – in Düsseldorf beim Landtagswahlkampf in Nordrheinwestfalen, wo sich ein Bürger der letzten Generation an die Bühne geklebt hat und mit Robert Habeck reden konnte. Das wollte ich eben auch machen. Ich wusste nicht, ob das funktioniert, weil die Sicherheitsvorkehrungen tatsächlich sehr hoch sind. Aber ich habe mich in dem Sinne vorbereitet durch die Trainings. Tatsächlich war ich aber aufgeregt und nervös. Aber durch die Techniken konnte ich mich insofern konzentrieren, da den richtigen Moment abzupassen. Bei uns sind Aktionen solcher Art immer ein Versuch und sogleich Notwehr.
Jetzt könnte man entgegnen, mit den Autofahrern trifft man immer die Falschen, oder? Warum haben Sie sich für Straßenblockaden entschieden – und damit auch gezielt für den Eingriff in den Alltag oder die Pläne ganz vieler Menschen?
Wir sehen eben, dass die Aktionen von anderen Bewegungen bisher zu leicht waren. Wir sind mit Herrn Scholz im November ins Gespräch getreten, wir haben jahrzehntelang mit Demonstrationen, Petitionen und allen anderen staatlich vorgesehenen Protestmitteln versucht, die Notlage abzuwenden, der wir uns gegenübersehen. Diese Versuche sind gescheitert. Wir erleben das in der aktuellen Notlage als eine Tragödie für unser Land und werden deshalb in konsequentem Schluss durch friedlichen, zivilen Widerstand die Störungen fortsetzen. Auch wenn wir das im Hinblick auf die Bedürfnisse unserer Mitmenschen, die wir in ihrem Alltag und auf dem Weg zur Arbeit unterbrechen, nur sehr bedauern können.
Also ist Ihnen Fridays for Future nicht radikal genug?
Wir würden nicht sagen, dass Fridays for Future nicht radikal genug sind. Radikal sind sie in dem Sinne auch, weil sie eben eine Graswurzelbewegung sind und sich auf die Ursachen der Klimakatastrophe beziehen. In dem Sinne ist Future natürlich auch radikal und man darf es nicht verwechseln mit extremistisch. Aber wir sehen eben ganz deutlich, dass die Aktionsformen, die ergriffen wurden, in der Vergangenheit nicht den notwendigen gesellschaftlichen Druck ausgelöst haben, um diese Dringlichkeit im sich immer schneller schließenden Zeitfenster jetzt handeln zu müssen, herauszustellen.
Dem könnte man aber entgegenhalten, dass Sie auch alle keine Experten auf dem Fachgebiet sind. Woher nehmen sie das Selbstverständnis, Gehör finden zu wollen bei der Politik und das eben nicht der Wissenschaft oder Fachleuten zu überlassen?
Wir möchten den öffentlichen Diskurs prägen sowie die notwendige Reaktion der Verantwortlichen erwirken, um drohendes Unheil abzuwenden. Die Vernichtung unserer Gesellschaft unterliegt keinen Machbarkeitserwägungen – denn sie ist keine Option. Dementsprechend sehen wir uns als Mahner und Antreiber. Im Bericht des Weltklimarats IPCC steht ja, dass sich das Zeitfenster rasend schnell schließt, in dem wir noch die Möglichkeit haben, drohendes Unheil abzuwenden.
Was müsste sich also Ihrer Meinung nach ändern?
Wir brauchen Wertschätzung für unser Land und alle Mitmenschen, unsere Lebensgrundlagen, unsere Ernährung, unsere Landwirte und Landwirtinnen, damit wir nicht in Hungersnöte kommen. Wir brauchen wirtschaftliche Stabilität durch eine Umgestaltung und Reduktion des Verkehrs, des Energiesektors und der Gebäudekonstruktion. Wir müssen die erneuerbaren Energien durch öffentliche Interventionen massiv ausbauen, Gebäude dämmen und auf die beste verfügbare Technologie setzen, während wir das Ziel nicht aus den Augen verlieren: eine stabile Welt. Wir freuen uns natürlich, dass das 9-Euro-Ticket eingeführt wurde. Nicht nur in Stuttgart, sondern bundesweit merke ich: Die Leute steigen wirklich um und fahren mehr Bahn.
… die aber nicht darauf vorbereitet ist.
Genau. Es wäre schön, wenn im Sinne der notwendigen Transformation der Nahverkehr dauerhaft kostenlos gemacht wird, für den Erhalt der Lebensgrundlagen und die Mobilitätsbedürfnisse ärmerer Familien.
Für die Landbevölkerung läuft es aber beinahe zwangsweise aufs Auto hinaus. Was müsste die Politik tun, um daran etwas zu ändern?
Es müsste gerade dort auf dem Land deutlich mehr ÖPNV geben. Busverbindungen könnten deutlich erhöht und ausgebaut werden. Das sind nur Einzelschritte – wir müssen nun das große Ganze anpacken. Das mag zunächst schwierig erscheinen, aber durch das sich rasend schließende Zeitfenster sehen wir einen Weg aus dieser Krise in eine Welt, in der wir unsere Demokratie und unseren Wohlstand ausbauen können – doch aktuell versperrt die Politik unserer Bundesregierung diesen Pfad.
Wie sehen Sie den Stand Deutschlands aktuell in Sachen Klimaschutz?
Wir fordern keine Ad-hoc-Klimaneutralität von heute auf morgen. Wir sehen, dass das Thema komplex ist. Das geht auch nicht von heute auf morgen. Wir sehen aber, dass die notwendigen Schritte derzeit noch gar nicht getan werden und wir stattdessen weiter den fossilen Wahnsinn befeuern. Und das sage nicht ich, sondern das sagt António Guterres, der UN-Generalsekretär.
Kommen wir zum Schluss noch einmal speziell auf Stuttgart zu sprechen. Was sind denn hier die größten Problemfelder? Und wo könnte die Stadt noch mehr machen?
Ein großes Versäumnis ist, dass unser Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU, Anm. d. Red.) die Stabsstelle Klimaschutz gestrichen hat, welche maßgebliche Initiativen und Kampagnen ergriffen und entwickelt hat, die auch in der breiten Öffentlichkeit dafür gesorgt haben, Leute für Klimaschutz und Umweltschutz zu sensibilisieren. Wir sehen hier aber auch genauso, dass wir einen hervorragenden ÖPNV haben mit einer engen Taktung. Andererseits ist Stuttgart eine Autostadt. Natürlich gibt es hier sehr viele Arbeitsplätze, die davon abhängen. Gerade an die Autobauer geht daher die Forderung, dass das Auto so umweltfreundlich wie möglich sein muss. Das Auto ist an sich ja ein durchaus sinnvolles Transportmittel.
Dass Stuttgart möglichst vor 2045 klimaneutral werden möchte, ist auch sehr begrüßenswert. Jeder muss seine Verantwortung tragen, auch auf kommunaler Ebene. Aber wir müssen jetzt in der Dramatik der Situation, da sich das Zeitfenster schließt, Widerstand leisten und die Bundesregierung zum Handeln bringen. Sie macht die Vorgaben für Kommunen und muss sich an völkerrechtlich bindende Abkommen halten.
Aber ist das realistisch? Wird genug getan, um das Ziel zu erreichen?
Wir können durchaus mehr tun. Wir merken aber, dass in der Kommunalpolitik die Bestrebungen da sind. Wenn man es jetzt mit dem Weg vergleicht, der auf unserer bundespolitischen Ebene unternommen wird, ist es deutlich ehrgeiziger, was hier in der Stadt passiert. Wir müssen jetzt dringend handeln. Laut dem Weltklimarat und den renommiertesten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bleiben nur noch wenige Jahre, um den Weg in den absoluten Kollaps unserer Zivilisation aufzuhalten, und nur eine sozial gerechte Notfallwirtschaft ist in der Lage, das noch zu erreichen. Nur sie ist in der Lage, die über uns hereinbrechende wirtschaftliche, soziale und ökologische Katastrophe noch abzuwenden – vorausgesetzt, wir handeln sofort. Vorausgesetzt, sie handeln sofort.
Wenn Sie abschließend Noten verteilen müssten: Welche Note würde die Bundesregierung kriegen, welche die Stadtverwaltung und welche die lokale Wirtschaft in Stuttgart?
Die Bundesregierung würde tatsächlich von mir eine Sechs bekommen. Die Kommunalpolitik in Stuttgart die Note Vier. Die Wirtschaft würde ich tatsächlich ebenfalls mit der Note Vier auszeichnen.
Warum die Note Sechs für die Bundesregierung und für wen speziell?
Vor allem für die drei Regierungsvertreter, Herrn Habeck, Herrn Scholz und Herrn Lindner. Herr Habeck hat uns im persönlichen Gespräch seinen "vollsten Respekt" ausgesprochen. Sie müssen jedoch das Notwendige tun und damit zustimmen, als ersten einfachen und logischen Schritt keine neuen fossilen Projekte wie Ölbohrungen in der Nordsee voranzutreiben, und jederzeit flexibel auf die politischen Gegebenheiten reagieren.
- Persönliches Gespräch mit Moritz Riedacher in Stuttgart