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Blaues Wunder von Mainz: Wie die Chagall-Fenster in die Stadt kamen


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"Blaues Wunder"
Wie die Chagall-Fenster ihren Weg nach Mainz fanden


25.10.2020Lesedauer: 4 Min.
Die Chagallfenster: Sie gelten auch als Blaues Wunder von Mainz.Vergrößern des Bildes
Die Chagallfenster: Sie gelten auch als Blaues Wunder von Mainz. (Quelle: Henrik Rampe)

Das Blaue Wunder von Mainz: So werden die Chagall-Fenster der Stephanskirche genannt. Doch wie kam diese einzigartige Glaskunst überhaupt in die Stadt am Rhein?

Marc Chagall war noch nie in Mainz, als er sich dazu entschloss, für die Stephanskirche in der Oberstadt Fenster zu gestalten. Heute ist die strahlend blaue Fensterfront Touristenmagnet und das größte Glaskunstwerk, das der weltbekannte Maler je geschaffen hat.

Die Antwort ließ lange auf sich warten. Ein Jahr nahm sich Marc Chagall Bedenkzeit, ehe der damals ebenso betagte wie renommierte Künstler zusicherte, Fensterkunst für die Mainzer Stephanskirche anzufertigen. Ein Coup für die Stadt, denn die Chance auf eine positive Rückmeldung tendierte gegen null, als sich Klaus Meyer entschloss, dem französisch-russischen Künstler von Weltrang einen Brief zu schreiben.

Meyer war mehr als zwei Jahrzehnte lang Pfarrer der Gemeinde Sankt Stephan und durch Bildbände schon immer fasziniert von den Glaskunstwerken des "Maler-Poeten". Seine Vision von originalen Chagall-Fenstern in seinem Gotteshaus formulierte er 1973 auf Briefpapier aus und sandte sie an den damals 86-jährigen Chagall. Ein ziemlich irrwitziger Gedanke, schließlich kannten sich Pfarrer und Künstler gar nicht. Chagall, dessen Werke von den Nazis als "entartet" bezeichnet und zum Großteil konfisziert worden waren, hatte Zeit seines Lebens ein distanziertes Verhältnis zu Deutschland. Davor und danach gestaltete der "Meister der Farbe und der biblischen Botschaft" nie wieder Glaskunstwerke in Deutschland.

Nach langem Überlegen ließ Chagall über seine Frau Valentina ausrichten, dass er den Auftrag aus Mainz annimmt. Was den Großmeister am Ende seiner Schaffenszeit an dem Projekt reizte, kann nur spekuliert werden. Fest steht: Chagall hielt Wort.

Planung anhand von Videos

Er ließ sich Videosequenzen zeigen, mit deren Hilfe er sich vorab ein Bild von den Räumlichkeiten machte, die er selbst nie betreten hatte. Fünf Jahre nach der ersten Briefkorrespondenz übergab der Expressionist 1978 sein erstes Glaskunstwerk der Kirchengemeinde. Helmut Kohl persönlich, damals Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, sicherte im Vorfeld zu, dass das Bundesland das Fenster stiftet. Aus gesundheitlichen Gründen verpasste der Künstler die festliche Einweihung der "Vision vom Gott der Väter", so der Name des ersten Fensters. Das Werk ist auch als ein Zeichen der Versöhnung und der Verbundenheit im Glauben zu verstehen: "Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist kein anderer als der Gott Jesu Christi", fasste Pfarrer Meyer bei der Einweihung die Kernbotschaft des Chagall-Fensters zusammen. Zu dem Zeitpunkt war noch nicht absehbar, dass weitere acht Motivfenster folgen sollten.

Doch kurze Zeit später machte sich Chagall daran, flankierende Mittelfenster zu gestalten. Mit weit über 90 Jahren schuf er noch weitere Entwürfe für die seitlichen Fenster des Ostchores mit dem Thema "Lob der Schöpfung" und machte sich eigenhändig daran, mit spezieller Schmelzfarbe das Glas zu bemalen. Unverkennbares Gestaltungsmerkmal der verschiedenen biblischen Abbildungen ist ein leuchtend blauer Hintergrund, der den Innenraum der Stephanskirche im warmen Farbenmeer erstrahlen lässt. "Unter den vielen Blautönen, die in Glas entwickelt worden sind, hat es diesen Blauton zuvor noch in keinem anderen Chagall-Fenster der Welt gegeben. Er musste eigens für dieses Fenster in der Glashütte neu entwickelt werden, da der Entwurf das verlangte", erklärt Pfarrer Meyer.

Adam und Eva im Paradies, Noah mit seinen Tieren auf der Arche, Prophet Elija unter dem Ginsterstrauch. In seiner Wahlheimat im Süden Frankreichs hat Chagall eine insgesamt 177 Quadratmeter große Fensterfläche gestaltet, die seit mehr als 40 Jahren unweit des Mainzer Stadtzentrums zu bewundern ist. Es ist das weltweit größte Glaskunstwerk des Malers, der auch Ehrenbürger der Stadt ist.

Je nach Tageszeit und Lichteinfall offenbart sich den Besuchern ein anderes Blauspektrum im Innenraum der Kirche. Blau ist nicht gleich blau, Details und Farbnuancen werden erst bei genauerer Betrachtung sichtbar – das beschreibt Klaus Meyer auch in seinem Buchband über die Fenster: "Marc Chagall malt 'supranatural'. Es geht ihm nicht nur um das Vordergründige, sondern mehr noch um das Hintergründige, Übergründige. Er lässt uns im Sichtbaren Unsichtbares erleben, im Zeitlichen Ewiges, im Geschaffenen den Schöpfer."

Chagall beschäftigte sich bis an sein Lebensende mit dem Glaskunstwerk. Das neunte und letzte Fenster der Kirche wurde erst kurz nach seinem Tod 1985 in Mainz eingeweiht. Ein französisches Glasatelier, mit dem Chagall jahrzehntelang zusammenarbeite, hat sein Werk fortgeführt und vollendet. Aus der gotischen Kirche am Stephansberg, die im zweiten Weltkrieg bis auf die Außenmauern und Säulen komplett abbrannte, ist längst eine Touristenattraktion geworden.

Über 4.000 Meditationen hat Klaus Meyer in der Kirche abgehalten und den Besuchern Kunst und Bedeutung der Chagall-Malerei nähergebracht. Aus der Briefanfrage, die der Pfarrer vor vier Jahrzehnten stellte, entwickelte sich eine Freundschaft und ein Kunstprojekt mit Nachhall. Jährlich zieht es 20.000 Besucher, Einheimische wie Touristen, auf den Stephansberg, um sprichwörtlich ihr "blaues Wunder" zu erleben.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
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