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Hamburg: Der CSD ist nicht der bessere Schlagermove – ein Gastkommentar


Fröhlicher Kampftag
"Der Christopher Street Day ist nicht der Schlagermove"

MeinungEin Gastkommentar von Stefan Mielchen

Aktualisiert am 29.07.2024Lesedauer: 5 Min.
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Gleiche Rechte für alle: Beim Christopher Street Day protestiert die queere Community für Gleichstellung. (Quelle: Marcelo Hernandez / Funke Foto Services/imago)

Beim CSD treten queere Menschen für ihre Rechte ein. Und das ist immer noch bitter nötig, findet Gastautor Stefan Mielchen. Denn gleich zu sein, bedeutet auch, gleiche Rechte zu haben.

Dieses Jahr im Herbst heirate ich den Mann, mit dem ich seit 16 Jahren glücklich bin. Nicht wenige Menschen in unserem Umfeld glauben, dass wir diesen Schritt längst gegangen seien – so selbstverständlich erscheint ihnen unser Zusammenleben. Umso größer sind Erstaunen oder Unverständnis, wenn ich erkläre, dass uns das lange Zeit nicht möglich war. Die Ehe für alle wurde in Deutschland erst 2017 Gesetz. Dennoch mussten wir mit dem Gang zum Standesamt warten.

Mein Mann arbeitet für die katholische Kirche. Eine gleichgeschlechtliche Heirat wäre für ihn bis letztes Jahr ein Kündigungsgrund gewesen. Wir beide und zahllose andere haben viele Jahre dafür gekämpft, dass sich die Dinge ändern, die für Heterosexuelle schon lange das Normalste auf der Welt sind. Auch öffentliche Anfeindungen und Denunzierungen haben uns nicht entmutigt. Wenn man so will, ernten wir jetzt die Früchte unseres Engagements.

Kein besonderer Schutz vor Diskriminierung

Wäre es nach Friedrich Merz und vielen anderen in der Union gegangen, dürften Schwule und Lesben wohl bis heute nicht heiraten, auch wenn mehr als zwei Drittel der Deutschen laut einer aktuellen Ipsos-Studie kein Problem damit haben. Ginge es nach der AfD, würde die Ehe für alle sofort wieder abgeschafft. Für ihren entsprechenden Antrag fanden Alice Weidel und Co. im Deutschen Bundestag bislang keine Mehrheit. Das muss aber nicht immer so bleiben. Den besonderen Schutz vor Diskriminierung durch Artikel 3 des Grundgesetzes genießen Homosexuelle, inter- und transgeschlechtliche Menschen nicht – als einzige Opfergruppe des Nationalsozialismus. Die Möglichkeit zu heiraten, kann ihnen per Mehrheitsbeschluss wieder genommen werden.

Um das zu ändern und die Ehe für alle sowie die Rechte der gesamten LGBTIQ-Community durch eine Grundgesetzänderung dauerhaft abzusichern, wäre eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erforderlich. Doch Friedrich Merz weiß einen solchen Schritt bisher zu verhindern. CDU und CSU haben offenbar kein Interesse, queeren Menschen zu sicheren Rechten zu verhelfen. Im Ton mögen sie moderater auftreten, im Ergebnis sind sie der AfD erschreckend ähnlich, allem Brandmauer-Gerede zum Trotz.

Zwang zur Sterilisation

Diese unheilige Allianz war zuletzt auch bei der Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz zu erleben. Es erleichtert Menschen, die einem anderen Geschlecht angehören als dem, das ihnen mit der Geburt zugewiesen wurde, ihren Personenstand zu ändern. Rein formal ist das nicht mehr als ein Verwaltungsakt beim Standesamt, der nur die jeweilige Person betrifft. In Wahrheit ist es ein riesiger Schritt in ein freieres, selbstbestimmtes Leben. Mehr als 40 Jahre legte das bisherige Transsexuellengesetz die Entscheidung über diese persönliche Frage in die Hände von Richterinnen und Richtern.

Betroffene waren von deren Urteil abhängig. Wer sich mit Menschen unterhält, die den langwierigen Weg der Transition gegangen sind, kann unglaubliche Geschichten hören. Bis Ende 2011 wurden trans Menschen gezwungen, sich sterilisieren zu lassen, um ihren Geschlechtseintrag ändern zu können. Verpflichtend war außerdem eine geschlechtsangleichende OP, auch wenn viele das gar nicht wollten; bis hin zur Größe der Brust wurde ihnen zuweilen vorgeschrieben, wie sie auszusehen haben, um die gängige Norm von "Mann" oder "Frau" zu erfüllen. Ehen mussten geschieden werden, damit aus einem bis dato "heterosexuellen" Ehepaar kein gleichgeschlechtliches wurde. Familien, die eigentlich den besonderen Schutz des Staates genießen, wurden zerstört. In den vorgeschriebenen und selbst zu finanzierenden psychologischen Gutachten mussten sich Betroffene intimste Fragen gefallen lassen. Etwa, wie sie masturbieren.

(Quelle: privat)

Zur Person

Seit 30 Jahren ist der 59-jährige Stefan Mielchen als Aktivist in der queeren Szene unterwegs. Der schwule Journalist organisierte 1998 in Marburg seinen ersten CSD, engagierte sich in der Aidshilfe und war von 2014 bis 2021 Erster Vorsitzender von Hamburg Pride e. V.

Wäre es nach AfD und Union gegangen, nach Alice Schwarzer oder Sahra Wagenknecht, gäbe es diese entwürdigende Praxis weiterhin. Auch die Hamburger CDU unter ihrem Bürgermeisterkandidaten Dennis Thering, die sich gerne als liberale Großstadtpartei inszeniert, wollte das Selbstbestimmungsgesetz unbedingt verhindern. Begründung: Das Geschlecht unterliege nicht der freien Selbstbestimmung. Diese Position widerspricht den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts. Karlsruhe stellte mehrfach klar, dass jeder Mensch frei bestimmen können soll, welcher Personenstand beim Standesamt registriert ist. Dem wird das neue Gesetz, bei aller Kritik im Detail, gerecht.

Hamburgs stellvertretender AfD-Landes- und Fraktionsvorsitzender Alexander Wolf schäumt: "Unser Land ist bedroht: von einer links-grünen, woken Schickeria, die unser Land zu einer Transgender-Republik umerziehen will." Darunter machen es Rechtspopulisten und -extremisten nicht. Die AfD-Bundestagsabgeordnete Beatrix von Storch warnte gar vor einer angeblichen "Trans-Lobby", die möglichst viele Kinder dazu bringen wolle, "sich chemisch kastrieren und körperlich verstümmeln zu lassen." Welch ein Hohn angesichts der beschriebenen Praxis, zumal es beim Selbstbestimmungsrecht gar nicht um medizinische Eingriffe geht.

Gewalt gegen queere Menschen nimmt zu

Künftig könne jeder Mensch in Deutschland einmal jährlich das Geschlecht wechseln, wird zudem immer wieder behauptet – als ob dies ein neuer Volkssport zu werden drohe. Richtig ist: Wer künftig seinen Personenstand ändert, kann dies ein Jahr lang nicht rückgängig machen. So wie bei einer Scheidung ein Trennungsjahr einzuhalten ist, bevor eine Ehe als gescheitert gilt. Käme deshalb ernsthaft jemand auf die Idee zu skandalisieren: In Deutschland darf jeder Mensch einmal pro Jahr jemand anderen heiraten?

Dass die Debatten wirken, ist offenkundig. Die Zahlen von Gewalttaten gegen queere Menschen sind in den vergangenen Jahren bundesweit und auch in Hamburg deutlich angestiegen. Auch die neueste Studie "Jugend in Deutschland" zeigt eine klare Tendenz: Stimmten beispielsweise 2021 noch 11,2 Prozent der deutschen Bevölkerung einer Abwertung von trans Menschen zu, waren es zwei Jahre später bereits 17 Prozent. Laut der aktuellen Studie "Menschen in Deutschland" der Uni Hamburg lehnen 11,6 Prozent der deutschen Bevölkerung Homosexuelle ab, 7,8 Prozent befürworteten sogar ein Verbot von Homosexualität. Das sind nicht alles Nazis; dieses Denken reicht weit in die bürgerliche Mitte hinein. Der Verfassungsschutz Baden-Württemberg warnte Anfang dieses Jahres, dass die Zahlen auf ein nicht zu unterschätzendes Mobilisierungspotenzial für Extremisten hindeuten. Mit der gesellschaftlichen Sichtbarkeit queerer Lebensweisen und der rechtlichen Gleichstellung gehe ein "Anstieg extremistischer Agitation gegen Trans- und Homosexualität auf ideologischer Ebene" einher.

Fröhlicher Kampftag

Unter anderem deshalb werde ich am kommenden Samstag in Hamburg auf die Straße gehen. Bei aller Party geht es beim CSD um weit mehr als das Zurschaustellen purer Lebensfreude (was Anlass genug wäre). Der Christopher Street Day ist nicht der bessere Schlagermove. Der CSD ist der fröhlichste Kampftag, den wir in Deutschland haben. Es geht um die Sichtbarkeit von Minderheiten, nicht um deren Dominanz. Es geht um die Solidarität der Mehrheit. Es geht darum, wie wir unser Zusammenleben in Hamburg, in Deutschland organisieren: Wollen wir eine weltoffene Gesellschaft sein, in der wir uns in unserer Unterschiedlichkeit mit Respekt und Akzeptanz begegnen, und in der wir uns auch über Trennendes hinweg verbünden, um Demokratie und Freiheit zu verteidigen? Oder werden wir ein Hort von Nationalismus, Fanatismus, Konformität und Ausgrenzung?

Für mich bedeutet Vielfalt, dass Minderheiten angstfrei und in Freiheit leben können. Oder, wie es die Publizistin Carolin Emcke sagt: Respekt ist zumutbar – und zwar immer! Die Angst, dass politische Extremisten die Oberhand gewinnen, dass unsere freiheitliche Demokratie Schaden nimmt, ist real. Auch dafür steht der CSD. Der Kampf um Gleichstellung ist noch lange nicht vorbei. Bis dahin gilt: Niemand ist gleich, wenn nicht alle gleiche Rechte haben.

Verwendete Quellen
  • Eigene Meinung
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