Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Feier zum 175-jährigen Bestehen Warum der VfL Bochum ein Jubiläum feiert, das es gar nicht gibt
Der VfL Bochum feiert am Samstag seinen 175. Geburtstag – mit Familientag und Legenden-Match. Dabei sei 1848 "so gut wie nichts passiert", sagt ein Sporthistoriker.
Wenn ein Verein 175 Jahre alt wird, ist das durchaus ein Grund zum Feiern. Und das tut der VfL Bochum auch mit einem großen Familientag, einem Spiel der VfL-Legenden und einer mehrwöchigen Ausstellung im Stadtarchiv. Das Problem an der Sache: Das Gründungsjahr 1848 – rund um den VfL und in Bochum längst Kult – gibt es so eigentlich gar nicht.
Beim Blick in die Historie ist es das Jahr 1938, in dem zum ersten Mal vom "Verein für Leibesübungen" die Rede ist. Die drei Vereine Turnverein Bochum, Germania Bochum und der TuS Bochum haben sich damals zusammengeschlossen. In vielen Städten gab es auf Drängen der Nationalsozialisten derartige Fusionen. "Damit wollten die Nazis propagieren, dass nach dem Ausschluss von Juden und Kommunisten alle nur noch Deutsche und Hitlerjünger sind", sagt Dr. Henry Wahlig. Der Sporthistoriker hat sich intensiv mit der Geschichte des VfL, auch unter Hitler, befasst: "Das Thema NS-Zeit ist beim VfL lange unter den Teppich gekehrt worden. Nicht bewusst, aber weil es jeder irgendwie vergessen hatte und immer nur das Datum 1848 präsent war."
Oberbürgermeister wollte einen "Großverein"
Umso wichtiger sei es, "dass diese Epoche inzwischen aufgearbeitet wird. Man hat daraus eine besondere Verantwortung, wenn man sich heute zum Beispiel für Vielfalt in der Gesellschaft einsetzt." Zur Aufarbeitung zählt auch das Eingeständnis, dass der Zusammenschluss 1938 nicht nur aus Zwang stattgefunden hat. "Diese Darstellung ist sicher zu platt. Es wurden Verlockungen gemacht, denen man nachgegeben hat", sagt Wahlig. Der damalige NS-Oberbürgermeister von Bochum, Otto Piclum, wollte diesen Großverein unbedingt. Er versprach den drei Vereinen, alle Schulden und auch das Stadion zu übernehmen, für das nur noch eine geringe Miete fällig wurde. Bis heute befindet sich das Ruhrstadion in städtischem Besitz – im Profifußball ungewöhnlich.
t-online-Gesprächspartner
Dr. Henry Wahlig ist Sporthistoriker und hat sich intensiv mit der Gründungsgeschichte des VfL Bochum befasst. Er ist Leiter des Veranstaltungsprogramms im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund.
Woher aber stammt nun die kultige Zahl 1848, die in Bochum jedes Kind kennt? Sie geht zurück auf einen der drei Vorgängervereine, auf den Turnverein Bochum. Er ist in seinen Wurzeln der älteste noch bestehende Bochumer Verein überhaupt. Aber auch hier stimmt was nicht: Gegründet worden ist er nämlich erst 1849. "Rein historisch gesehen ist 1848 so gut wie nichts passiert bis auf den Aufruf zur Gründung eines Turnvereins in der Zeitung. Das Treffen fand erst im Februar 1849 statt", bestätigt Wahlig. Schmückt sich der VfL Bochum also mit einem falschen Gründungsdatum? Kommen die Feiern zum 175-jährigen Jubiläum ein Jahr zu früh? Nein, sagt Wahlig entschieden: "1848 ist ein Symbol für den Verein – mehr, als es uns lange Zeit klar war. Und der Turnverein hat sich selbst das Jahr 1848 gegeben, was zugleich ein Statement war."
Fußball als "Fußlümmelei" abgelehnt
Denn 1848 war das Jahr der gescheiterten demokratischen Revolution in Deutschland. Der Turnverein, der diese Jahreszahl auch auf seiner aufwändig restaurierten Gründungsfahne trägt, stand offenbar für eine "vielfältige, demokratische und auch religiös offene Verbindung", wie es Wahlig beschreibt. Der vermutlich erste Sprecher des Vereins war mit Philipp Anschel ein Jude. Für damalige Verhältnisse war das ungewöhnlich. In den meisten Fällen waren Turnvereine konservativ-nationalistisch geprägt.
Gerade der Bezug auf 1848 und die Vielfältigkeit des Ursprungsvereins sind für Henry Wahlig wichtig für den VfL Bochum in seiner jetzigen Form. "Das schlägt sehr gut die Brücke in die heutige Zeit. Es sind Werte, für die der Verein heute auch stehen will. Es ist doch schön, dass sie quasi auch schon an der Wurzel präsent waren." Einer großen Feier zum 175-jährigen Jubiläum steht also nichts im Wege.
Am Familientag des VfL sind alle Abteilungen beteiligt, vom Tischtennis bis zum Tanzsport. Dass die Fußballer im Fokus stehen, ist klar – war aber zu Zeiten des Turnvereins noch ganz anders, wie Wahlig erzählt: "Die Turner haben den Fußball in frühen Jahren zunächst total abgelehnt als Fußlümmelei. Turner und Sportler haben sich über Jahrzehnte gehasst – auch dann noch, als sie als VfL fusioniert wurden."
- Gespräch mit Dr. Henry Wahlig
- Eigene Recherchen